Engelslied
verklungen. »Ich fürchte«, sagte er, »die Neuigkeiten, die ich habe und mit dir besprechen muss, werden deine Gedanken in eine ganz andere Richtung lenken.«
Raphaels Ton ließ Elena aufhorchen. Um sie herum waren die Menschen stehen geblieben, um zu staunen, denn der Erzengel von New York war nicht gerade dafür bekannt, dass er gern und oft lachte, aber sie ignorierte die offenen Münder. »Was gibt es denn?«
»Zweierlei. Ich habe zwei … interessante Neuigkeiten.«
Elena rutschte das Herz in den Magen. »Geht es um Lijuan?« Raphaels Meisterspion zufolge erschuf die völlig irrsinnige alte Erzengelfrau wieder einmal Wiedergeborene, wenngleich auch nur in geringer Zahl. Lijuan bezeichnete ihr Tun als »Leben schenken«, aber diese gespenstigen willenlosen Diener waren der reinste Albtraum und eine Plage für den Rest der Welt. Was am schlimmsten war: Viele von ihnen wussten das selbst, und ihre Augen bettelten um Hilfe, wenn sie mit schlurfenden Schritten den Befehlen ihrer Herrin nachkamen.
Dann waren da noch die seltsam ausgedörrten Leichen, die man in der Nähe ihres Zufluchtsorts gefunden hatte und auf die sich niemand einen Reim machen konnte. Man hatte sich allgemein zu der Auffassung durchgerungen, es handele sich um fehlgeschlagene Versuche bei der Erschaffung von Wiedergeborenen, aber noch wusste niemand, ob diese Fehlschläge nun etwas Gutes oder Schlechtes bedeuteten. »Sie wird doch nicht …«
Noch bevor Elena ihre Frage beendet hatte, unterbrach Raphael sie mit einem Kopfschütteln, das die glänzenden schwarzen Haare wie Seide schimmern ließ. »Meine Mutter hat uns zu einem Ball eingeladen.«
Ohne nachzudenken, zog Elena ein Messer mit scharfer, dünner Klinge aus einem der schönen weichen Futterale an ihrem Unterarm, die ihr ihr Erzengel geschenkt hatte. »Entschuldigst du mich kurz? Ich will mir nur rasch die Augen ausstechen und mich auch gleich noch entleiben, wenn ich schon einmal dabei bin.« Bei Elenas letztem Besuch auf einem Ball der Unsterblichen hatte sie zum Schluss im Blut der Wiedergeborenen gebadet, während um sie herum die Stadt Peking in Flammen aufgegangen war. Ach ja: Und vorher war sie mit voller Wucht auf die Erde geknallt, nachdem man sie unsanft vom Himmel gepflückt hatte.
»Das, fürchte ich, kann ich dir nicht gestatten.« Raphael hatte den Ton angeschlagen, den Elena insgeheim als seine »Erzengelstimme« bezeichnete: formell und keinen Widerspruch duldend. »Wer sorgt denn dann auf dem Ball dafür, dass ich mich amüsiere? Ich sähe mich womöglich noch gezwungen, mir die eigenen Augen auszureißen, und die hast du doch, sagst du, recht gern.«
»Sehr witzig!« Seufzend lehnte Elena den Kopf an seinen muskulösen, mit Lederriemen umwickelten Arm. Anscheinend hatte Raphael gerade trainiert, höchstwahrscheinlich mit Illium als Sparringpartner. »Warum möchte Caliane einen Ball veranstalten?«
Raphael breitete seine Flügel über denen von Elena aus, eine vertraute, intime Geste, die von leisem Rascheln begleitet wurde. »Ihre Stadt und ihr Volk sind vollständig erwacht, und nun möchte sie die anderen Mächte der Welt offiziell begrüßen.« Er dachte kurz nach. »Meine Mutter mag vieles gewesen sein, aber unhöflich war sie nie. Als Uralte weiß sie um ihre Verantwortung. Sie kennt ihre Verpflichtung, sich an der Regentschaft der Welt zu beteiligen, selbst wenn dies aus einiger Entfernung geschieht.«
Vielseitig, intelligent, ehemals wahnsinnig: Raphaels Mutter war nicht die Frau, die sich so leicht in eine bestimmte Kategorie einordnen ließ. Vor Ewigkeiten hatte die Uralte ihren Sohn schwer verletzt und blutend auf einem verlassenen Feld liegen lassen und war davongegangen. Andererseits war sie aber auch gefährlich früh aus einem Jahrhunderte dauernden Schlaf erwacht, um ebendiesem Sohn das Leben zu retten. »Wann findet der Ball statt?«, wollte Elena wissen.
»In knapp zwei Wochen.«
»Gut. Ich werde dafür sorgen, dass meine Juwelen glitzern und meine Fingernägel vorzeigbar sind.«
Raphaels Lippen verzogen sich erneut zu einem Lächeln, als Elena ihre Klinge wieder ins Futteral zurückgleiten ließ, um ihm ihre Hände entgegenzustrecken, damit er die unlackierten Nägel bewundern konnte. Die waren nach Jägerart kurz geschnitten. Zudem wies Elenas linker Handrücken nach der Auseinandersetzung mit einem aufsässigen Vampir, den sie erst vor ein paar Stunden im Auftrag der Gilde zurückgeholt hatte, einige Abschürfungen auf, und als sie
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