Engelslied
die Hände umdrehte, zeigten sich Handflächen voller Schwielen.
Diese Schwielen konnte nicht einmal ihr neuerdings unsterblicher Körper entfernen, dafür arbeitete die Jägerin zu viel mit Waffen. »Ich glaube, mit einer Maniküre ist es bei mir nicht getan«, seufzte sie.
»Solltest du mich je mit weichen Händen berühren, wie sie bei Hof üblich sind, dann weiß ich, dass ein Betrüger in deiner Haut herumläuft.«
Manche Frauen hätten sich von dieser Bemerkung vielleicht beleidigt gefühlt, aber bei Elena löste sie lediglich das heftige Verlangen nach einem sehr heißen Kuss aus, der in diesem Moment leider nur sehr öffentlich ausgefallen wäre. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, versprach sie sich. Dem Bedürfnis nach Küssen würde sie nachgeben, sobald sie mit Raphael allein war. »Also?«, fragte sie, »was hast du sonst noch mit mir zu besprechen?«
»Vielleicht sollte ich dir erst einmal die Waffen abnehmen.«
Was konnte schlimmer sein als ein Ball, bei dem die mächtigsten und heimtückischsten Engel und Vampire der Welt anwesend sein würden? »Mein Vater möchte mit uns zu Abend essen?«
»Nein, um Jeffrey geht es nicht.« Raphael reckte das Kinn in einem Winkel vor, der Brutalität verriet. Es war klar, welche Meinung er von Elenas Vater hatte. »Komm, lass uns gehen. Über die zweite Sache können wir unter so vielen Zuhörern nicht sprechen.« Er trat einen Schritt beiseite, sodass seine Flügel von den ihren glitten. »Möchtest du es mit einem Senkrechtstart versuchen?«
Elena dachte an die vielen Zeugen, dachte an die Anstrengung, die es bedeuten würde, sich aus dem Stand heraus in die Lüfte zu schwingen. Sie würde die Zähne zusammenbeißen müssen, würde Schwächen zeigen, die nicht nur auf sie, sondern auch auf Raphael zurückfielen. Und im Interesse von Sterblichen und Unsterblichen zugleich durfte sich ein Erzengel nie schwach zeigen.
Noch vor ein paar Monaten wäre ihre Entscheidung vielleicht anders ausgefallen. Damals, als sie so hart darum gerungen hatte, sich in der neuen Welt, in die sie geworfen worden war, ein Gefühl für das eigene Ich zu bewahren. Jetzt verstand sie das Gleichgewicht der Kräfte in dieser Welt viel besser, verstand all die feinen Nuancen, die es zu beachten galt. Vor allem aber wusste sie, Raphael strebte nicht danach, ihre Freiheiten zu beschneiden, auch wenn sein Beschützergehabe sie manchmal sehr wütend werden ließ.
»Nein, nicht hier.« Sie trat in seine ausgebreiteten Arme, faltete die Flügel zusammen und ließ sich in die Luft hochheben, mühelos, Raphaels Hände um ihre Taille so fest wie Stahl, sein Herzschlag gleichmäßig und stark.
Hohe, donnernde Wellen, der Salzgeschmack des Meeres, Regen, klar und rein – das war Raphaels mentaler Duft, der sich in jeden Atemzug von Elena hineindrängte, um dort zu verweilen, bis ihr ganzer Körper vor Sehnsucht und Verlangen schmerzte. Immer schmerzte ihr Körper, wenn sie diesen Duft in sich aufnahm. Elena drehte den Kopf so weit, bis sie Raphael die Lippen an den Hals drücken und spüren konnte, wie sein Puls sich beschleunigte.
»Würdest du hier, über Manhattan, mit mir tanzen?«
Sinnliches Flüstern, bei dem ihr der Atem stockte, das die Vorstellung von ineinander verschlungenen Körpern und Flügeln heraufbeschwor, bis ihr schien, als rausche reines Adrenalin in ihren Adern. »Noch nicht. Ich glaube, dafür fehlt mir immer noch der Mut.« Raphael als Erzengel mochte zwar sich und seine Gefährtin vor Blicken abschirmen, aber Elena selbst wäre dann immer noch in der Lage, die Stadt unter sich liegen zu sehen. »Ich tanze gern mit dir über dem Meer.« Sie liebte es, seine reine Kraft zu spüren, wenn sie aus tödlichen Höhen hinabstürzten und auf dem Wasser aufschlugen. »Heute Abend?«
»Schon hast du mich verführt.« Sie flogen gerade über der Wolkendecke. Raphael lockerte seinen Griff ein wenig, um Elenas Mund für einen Kuss voll dunkler Leidenschaft zu suchen, bei dem sich ihre Brüste spannten und ihr ganzer Körper sich jetzt schon nach den wilden Verheißungen der Nacht sehnte. »Bereit?«, fragte er, nachdem er ihre Lippen wieder freigegeben hatte. Sein Körper drängte sich hart gegen ihren.
Auf Elenas Nicken hin löste er seine Hände von ihrer Taille, und sie fiel durch den feinen Wolkennebel, der sich wie ein zarter Kuss anfühlte … breitete die Schwingen aus und erhob sich mit dem Aufwind in die Lüfte. Wie schön das Fliegen war, wie heiter, jedes Mal aufs
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