Engelsnacht
nach den vielen Stunden, die sie in den vergangenen Wochen miteinander verbracht hatten, ahnte sie noch nicht einmal dunkel, was das Geheimnis ihrer gegenseitigen Anziehung war.
Gut so. Oder zumindest: besser so. In den vergangenen Tagen, seit er beschlossen hatte, den Landsitz zu verlassen, hatte er gegen diese mächtige Kraft angekämpft. Er musste
sich von ihr lösen. Diese Anstrengung erschöpfte ihn tagsüber so sehr, dass er dem lange gehegten Wunsch, sie zu zeichnen, an den Abenden schließlich nachgegeben hatte. Die Seiten seines Skizzenbuchs waren mit Zeichnungen von ihr gefüllt - von ihrem langen gebogenen Hals, ihrem marmorweißen Schlüsselbein, der schwarzen Flut ihrer Haare.
Jetzt fühlte er sich nicht nur wie bei etwas Verbotenem ertappt, weil er sie gezeichnet hatte, nein, es war viel schlimmer. Ein Schauder durchfuhr ihn, als er begriff, dass ihre Entdeckung sie vernichten würde. Sie durfte nicht erfahren, welche Gefühle er für sie hegte. Er hätte vorsichtiger sein müssen. Es fing immer so an.
»Warme Milch mit einem Teelöffel Melasse«, murmelte er. »Das hilft beim Einschlafen.« Seine Stimme klang traurig.
»Woher wissen Sie das? Genau das hat meine Mutter mir immer -«
»Ich weiß«, sagte er ruhig. Ihre Verblüffung überraschte ihn nicht, aber er durfte ihr nicht erklären, woher er das wusste, oder ihr erzählen, wie oft er ihr in der Vergangenheit diesen Trank verabreicht hatte, wenn die Schatten kamen. Wie oft er sie so lange in den Armen gehalten hatte, bis sie eingeschlafen war.
Er spürte ihre Berührung, als würde sie ihm durch sein Hemd hindurch die Haut verbrennen. Ihre Hand lag sanft auf seiner Schulter, und sein Atem ging schwer. Sie hatten sich in diesem Leben noch nicht berührt, und wenn es das erste Mal geschah, musste er immer nach Luft ringen.
»Bitte antworten Sie mir«, flüsterte sie. »Haben Sie wirklich vor, uns zu verlassen?«
»Ja.«
»Dann nehmen Sie mich mit«, stieß sie mit einem Mal hervor. Er hörte, wie sie scharf die Luft einsog, nichts wünschte
sie sich jetzt mehr, als die Bitte zurückzunehmen. An der Falte zwischen ihren Augen konnte er die Abfolge ihrer Gefühle ablesen: erst überrascht, dann verwirrt, dann verlegen wegen der Unbedachtheit ihrer Äußerung. Das war bei ihr immer so, und bereits viel zu viele Male hatte er den Fehler begangen, sie in diesem Augenblick zu trösten.
»Nein«, flüsterte er, während er sich erinnerte … sich viel zu gut erinnerte … »Ich werde morgen das Segelschiff besteigen, und wenn Sie wirklich Gefühle für mich hegen, dann sagen Sie jetzt bitte kein Wort mehr.«
»Wenn ich Gefühle für Sie hege«, sagte sie wie zu sich selbst. »Ich … ich liebe …«
»Sagen Sie es nicht.«
»Ich muss es sagen. Ich … ich liebe Sie, da bin ich mir gewiss, und wenn Sie jetzt abreisen -«
»Wenn ich jetzt abreise, rette ich Ihnen das Leben.« Er sprach langsam, versuchte jene Schicht von ihr zu erreichen, die sich vielleicht erinnerte. Irgendwo in ihr, tief in ihr vergraben, musste es doch so sein. »Es gibt Wichtigeres als die Liebe. Sie werden das jetzt vielleicht noch nicht verstehen, aber Sie müssen mir vertrauen.«
Ihre Augen bohrten sich in ihn. Sie trat ein paar Schritte zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Auch diesen Fehler machte er immer wieder - er redete mit ihr stets viel zu sehr von oben herab, wogegen sie sich dann wehrte. Sie war eine Kämpferin.
»Wollen Sie mir wirklich sagen, dass es Wichtigeres gibt, als das hier zu spüren?« Sie nahm seine Hände und legte sie auf ihr Herz.
Ach, da stand sie vor ihm und hatte keine Ahnung, was nun folgen würde. Wenn er doch nur einmal über sich hinauswachsen würde und in der Lage wäre, sie aufzuhalten! Wenn
er sie jetzt nicht aufhielt, dann würde sie nie begreifen - und die Vergangenheit würde sich in einem fort wiederholen, wieder und wieder würden sie dieselbe Qual durchleben müssen.
Er spürte unter seinen Händen die vertraute Wärme ihrer Haut, warf den Kopf in den Nacken und stöhnte. Wenn es ihm doch nur gelänge, ihre körperliche Nähe auszublenden, sich nicht daran zu erinnern, wie sich ihre Lippen auf seinen Lippen anfühlten - und dass danach unweigerlich ein bitteres Ende folgen würde. Ihre Finger berührten sanft seine Finger. Unter ihrem weißen Morgenmantel hob und senkte sich ihre Brust, ihr Herz musste bis zum Zerspringen klopfen.
Sie hatte recht. Es gab nichts Wichtigeres. Nie hatte es etwas Wichtigeres
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