Engelsnacht
um die schrecklichen Antipsychotika nicht nehmen zu müssen.
Deshalb begann sie nun ihr letztes Jahr an der Highschool einen ganzen Monat, nachdem das Schuljahr angefangen hatte. Ihr Schuljahr in der Besserungsanstalt. Als ob es nicht schon schlimm genug wäre, neu an eine Schule zu kommen. Es hatte Luce richtig nervös gemacht, dass sie nun in Kurse kommen würde, wo alle anderen sich bereits kannten.
Aber wie es so aussah, war sie nicht die einzige Neue, die an diesem Morgen angekommen war.
Sie warf einen verstohlenen Blick zu den drei anderen Jugendlichen. In ihrer alten Schule, der Dover Prep, hatte sie bei ihrer Erkundungstour am ersten Tag gleich ihre beste Freundin Callie kennengelernt. Alle anderen Schüler waren seit ihrer Kindheit miteinander aufgewachsen, was schon ausgereicht hätte, um Luce und Callie zusammenzuschweißen. Aber sie entdeckten auch schnell, dass sie dieselbe Leidenschaft für dieselben alten Filme teilten - vor allem solche mit Albert Finney wie »Zwei auf gleichem Weg«. Nachdem sie dann auch noch entdeckt hatten, dass keine von ihnen beiden Popcorn zubereiten konnte, ohne Feueralarm auszulösen, waren sie unzertrennlich gewesen. So lange bis … so lange, bis sie sich trennen mussten.
Neben Luce standen zwei Jungen und ein Mädchen. Mit dem Mädchen war es ziemlich einfach, sie war blond und auf die Weise hübsch, wie Mädchen in Werbespots für Handcreme hübsch sind, mit pastellrosa Nagellack, der zu ihrem Haarband passte.
»Ich bin Gabbe«, flüsterte sie und schenkte Luce ein strahlendes Lächeln, das ebenso schnell wieder verschwand, wie es aufgetaucht war. Luce hatte noch nicht einmal Zeit, ihren eigenen Namen zu sagen. Das mangelnde Interesse des Mädchens erinnerte sie an viele Mädchen in Dover, nur in der Südstaatenvariante. In der Sword & Cross hätte sie das allerdings nicht erwartet. Luce konnte genauso wenig entscheiden, ob sie das eher beruhigend oder beunruhigend finden sollte, wie sie sich vorstellen konnte, was ein solches Mädchen in einer Besserungsanstalt zu suchen hatte.
Rechts neben Luce war ein Junge mit kurzen braunen Haaren, braunen Augen und ein paar Sommersprossen auf
der Nase. Er vermied es, ihrem Blick zu begegnen, und zupfte nervös an dem Nagelhäutchen seines Daumens herum, was Luce vermuten ließ, dass er genauso wie sie immer noch ganz geschockt war, hier zu sein, und sich am liebsten verkrochen hätte.
Der Junge links neben ihr passte dagegen nur zu gut zu dem Bild, das sie sich von diesem Ort gemacht hatte. Fast zu perfekt. Er war groß und mager, hatte eine DJ-Tasche über der Schulter hängen, unordentliche schwarze Haare und große, tief liegende grüne Augen. Für seine geschwungenen rosenroten Lippen hätten die meisten Mädchen wahrscheinlich einen Mord begangen. An seinem Nacken war über dem Halsausschnitt seines schwarzen T-Shirts ein schwarzes Tattoo zu erkennen, eine aufgehende Sonne, deren Strahlen auf seiner blassen Haut leuchteten.
Anders als die beiden anderen erwiderte der Junge ihren Blick, als er sich zu ihr umdrehte, und schaute nicht gleich wieder weg. Seine Lippen zeigten nicht das kleinste Lächeln, aber seine Augen waren warm und lebendig. Er sah sie ruhig an und stand dabei reglos wie eine Statue da, weshalb Luce sich plötzlich mit dem Boden wie verwurzelt fühlte. Sie hielt einen Moment den Atem an. Der Blick aus diesen Augen war intensiv und verlockend und, ja, auch entwaffnend.
Mit einem lauten Räuspern unterbrach die Frau ihren tranceähnlichen Zustand. Luce errötete und fuhr sich nervös über den Kopf, als müsse sie sich dringend kratzen.
»Diejenigen von euch, die die erste Lektion begriffen haben, können jetzt gehen, nachdem sie ihre Waffen hier abgeliefert haben.« Die Frau deutete auf eine große Pappschachtel, über der ein Schild mit der Aufschrift VERBOTENE GEGENSTÄNDE hing. »Und wenn ich sage, sie können jetzt gehen, Todd -«, sie umklammerte die Schulter des
sommersprossigen Jungen mit einem so harten Griff, dass er zusammenzuckte, »- dann meine ich damit, ihr könnt jetzt gehen, um hier in der Schule eure persönlichen Betreuer zu treffen. Keinesfalls dürft ihr das Gelände verlassen. Du -«, sie zeigte auf Luce, »- gibst deine Waffen ab und bleibst danach bei mir.«
Alle vier trotteten zur Pappschachtel und Luce beobachtete verdutzt, was die anderen drei Jugendlichen alles aus ihren Taschen leerten. Das Mädchen zog ein dickes Schweizer Armeemesser hervor. Der Junge mit den grünen Augen
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