Enigma
Seidenkrawatte. Es fehlten nur noch ein Bowler und ein zusammengerollter Regenschirm, um das Klischee zu vervollständigen. Statt dessen trug er, völlig unpassenderweise, außer seinem Aktenkoffer eine Tüte mit Lebensmitteln. Er ging müde auf seine Haustür zu, schloß sie auf und verschwand im Innern des Hauses.
Jericho stand auf, klopfte den Staub von seiner Hose und folgte ihm.
Wieder läutete die Glocke; wieder passierte nichts. Er versuchte es ein zweites und ein drittes Mal, dann ließ er sich mühsam auf die Knie nieder und öffnete die Klappe des Briefschlitzes.
Edward Romilly stand am Ende eines düsteren Flurs, mit dem Rücken zur Tür, völlig unbeweglich.
»Mister Romilly?« Jericho mußte durch den Schlitz hindurch rufen. »Ich muß mit Ihnen reden. Bitte.«
Der hochgewachsene Mann bewegte sich nicht. »Wer sind Sie?«
»Tom Jericho. Wir haben einmal miteinander telefoniert. Bletchley Park.«
Romillys Schultern sackten herunter. »Um Gottes willen, könnt ihr Leute mich nicht endlich in Ruhe lassen?«
»Ich war in Somerset House, Mister Romilly«, sagte Jericho, »in der Registratur für Geburten, Heiraten und Todesfälle. Ich habe ihren Totenschein bei mir.« Er zog ihn aus der Tasche. »Claire Alexandra Romilly. Ihre Tochter. Gestorben am 14. Juni 1929 im St. Mary´s Hospital in Paddington. An Hirnhautentzündung. Im Alter von sechs Jahren.« Er warf ihn durch den Briefschlitz und beobachtete, wie er über die schwarz-weißen Fliesen auf Romillys Füße zuglitt. »Es tut mir leid, Sir, aber ich muß hierbleiben, bis alles geklärt ist.«
Er ließ die Klappe zufallen. Er empfand Abscheu vor sich selbst, drehte sich um und lehnte seine heile Schulter an eine Säule. Er blickte über die Straße hinweg auf den kleinen Park. Von jenseits der Häuser auf der anderen Straßenseite kam das erfreuliche Summen des frühabendlichen Verkehrs auf der Cromwell Road. Er verzog das Gesicht. Die Schmerzen hatten sich jetzt aus seinem Rücken verzogen und liefen hinab in seine Beine, breiteten sich aus in seine Arme, seinen Hals; überallhin.
Er wußte nicht, wie lange er dort kniete, die Knospen an den Bäumen betrachtete und den Verkehrsgeräuschen lauschte, bis Romilly endlich die Tür hinter ihm aufschloß.
Er war um die Fünfzig, mit einem asketischen, fast mönchischen Gesicht, und als Jericho ihm über die breite Treppe hinauf folgte, ertappte er sich, wie so oft bei einem Zusammentreffen mit Männern dieser Generation, bei dem Gedanken, daß dies in etwa das Alter seines Vaters wäre, wenn er noch lebte. Romilly führte Jericho durch eine Tür in die Dunkelheit und zog zwei schwere Vorhänge auf. Licht ergoß sich in ein Wohnzimmer, dessen Möbel mit weißen Laken abgedeckt waren. Nur ein Sofa stand offen da und ein nahe an einen marmornen Kamin herangeschobener Tisch. Auf dem Tisch stand schmutziges Geschirr, auf dem Kamin ein paar große Fotos in Silberrahmen.
»Man lebt allein«, sagte Romilly entschuldigend und wedelte den Staub beiseite. »Man hat nie Gäste.« Er zögerte, dann ging er zum Kamin und griff nach einem der Fotos. »Das ist Claire«, sagte er leise. »Eine Woche vor ihrem Tod aufgenommen.«
Ein hochgewachsenes, mageres Mädchen mit dunklen Ringellocken lächelte Jericho zu.
»Und das ist meine Frau. Sie starb zwei Monate nach Claire.«
Die Mutter hatte dieselbe Haarfarbe und denselben Knochenbau wie die Tochter. Keine von beiden hatte auch nur entfernte Ähnlichkeit mit der Frau, die Jericho als Claire kannte.
»Sie war allein mit einem Auto unterwegs«, fuhr Romilly fort. »Es kam von einer leeren Straße ab und prallte gegen einen Baum. Der Untersuchungsrichter war so entgegenkommend, es als Unfall zu deklarieren.« Sein Adamsapfel hüpfte, als er schluckte. »Weiß jemand, daß Sie hier sind?«
»Nein, Sir.«
»Wigram?«
»Nein.«
»Verstehe.« Romilly nahm ihm die Fotos ab, stellte sie auf den Kamin zurück und richtete sie wieder genau so aus, wie sie gestanden hatten. Sein Blick wanderte von Mutter zu Tochter und wieder zurück.
»Das wird Ihnen absurd vorkommen«, sagte er schließlich, ohne Jericho anzusehen, »jetzt kommt es auch mir absurd vor - aber es schien eine Möglichkeit zu sein, sie wieder zurückzubringen. Können Sie das verstehen? Ich meine, der Gedanke, daß ein anderes Mädchen, genauso alt wie sie, unter ihrem Namen herumliefe und das täte, was sie getan hätte… Ihr Leben lebte… Ich dachte, es würde dem, was passiert ist, einen Sinn geben,
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