Enigma
verstehen Sie? Ihren Tod nach all den Jahren rechtfertigen. Töricht, aber…« Er hob eine Hand an die Augen. Es dauerte eine Minute, bevor er wieder sprechen konnte. »Was wollen Sie von mir, Mister Jericho?«
Romilly hob eines der Laken an und brachte eine Flasche Whisky und zwei Gläser zum Vorschein. Sie saßen zusammen auf dem Sofa und starrten in den leeren Kamin.
»Was genau wollen Sie von mir?«
Vielleicht endlich die Wahrheit? Bestätigung? Seelenfrieden? Einen Abschluß?
Und Romilly schien bereit, ihm das zu geben, als erkannte er in Jericho einen Leidensgenossen.
Es war Wigrams geniale Idee gewesen, sagte er, einen Agenten in Bletchley Park einzuschleusen. Eine Frau. Eine Person, die ein Auge auf diese seltsame Ansammlung von Charakteren hatte, die so wichtig für den Sieg über Deutschland war, aber gleichzeitig so fremd für den Geheimdienst und seine Tradition; diese Leute hatten sogar diese Tradition zerstört, und das, was eine Kunst gewesen war - ein Spiel für Gentlemen, wenn man so wollte -, in eine Wissenschaft der Massenproduktion verwandelt.
»Wer waren Sie alle? Was waren Sie? Konnte man Ihnen allen trauen?«
Niemand in Bletchley durfte wissen, daß sie eine Agentin war, das war wichtig, nicht einmal der Kommandant. Und sie mußte den richtigen gesellschaftlichen Hintergrund haben, das war von ausschlaggebender Bedeutung, sonst hätte man sie in irgendeine Außenstelle gesteckt, und Wigram brauchte sie dort im Zentrum des Geschehens.
Er goß sich einen weiteren Drink ein und wollte Jerichos Glas auffüllen, aber Jericho hielt die Hand darüber.
Nun, sagte er seufzend, während er die Flasche neben seine Füße stellte, eine solche Person aufzubauen war schwerer, als man glauben sollte: sie ins Leben zu rufen, komplett mit Personalausweis und Lebensmittelkarten und all dem anderen Drum und Dran des Lebens im Kriege, ihr den richtigen Hintergrund zu verschaffen (»die richtige Legende«, wie Wigram es ausgedrückt hatte), ohne dabei das Innenministerium einzuschalten und ein halbes Dutzend Regierungsstellen, die von dem Geheimnis keine Ahnung hatten.
Aber dann hatte Wigram sich an Edward Romilly erinnert. Den armen alten Edward Romilly. Den Witwer. Außerhalb des Ministeriums kaum jemandem bekannt, in den letzten zehn Jahren ständig im Ausland, mit all den richtigen Verbindungen, in Enigma eingeweiht - und, was noch wichtiger war, mit der Geburtsurkunde eines Mädchens im richtigen Alter. Alles, was von ihm verlangt wurde, abgesehen von der Benutzung des Namens seiner Tochter, war ein Empfehlungsschreiben an Bletchley Park. Im Grunde nicht einmal das, da Wigram selbst den Brief schreiben würde. Er brauchte nur seine Unterschrift zu liefern. Und danach konnte Romilly so einsam weiterleben wie bisher, in dem Bewußtsein, daß er seine patriotische Pflicht erfüllt hatte. Und seiner Tochter eine Art Existenz verschafft.
Jericho sagte: »Ich nehme an, Sie sind ihr nie begegnet? Der Frau, die den Namen Ihrer Tochter angenommen hat?«
»Großer Gott, nein. Wigram hat mir sogar versichert, daß ich nie wieder etwas von dieser Sache hören würde. Das habe ich zur Bedingung gemacht. Und ich habe nichts gehört, sechs Monate lang. Bis Sie eines Sonntags morgens hier anriefen und mir mitteilten, daß meine Tochter verschwunden sei.«
»Und Sie haben schnurstracks zum Telefon gegriffen und Wigram berichtet, was ich gesagt habe?«
»Natürlich. Ich war bestürzt.«
»Und natürlich wollten Sie wissen, was passiert war. Und er hat es Ihnen gesagt.«
Romilly kippte seinen Scotch hinunter und starrte in das leere Glas. »Der Gedächtnisgottesdienst war heute, nicht wahr?«
Jericho nickte.
»Darf ich fragen, wie er verlaufen ist?«
»›Denn es wird die Posaune schallen‹«, sagte Jericho, »›und die Toten werden auferstehen unverweslich, und wir werden verwandelt werden…‹« Er wandte den Blick von dem Foto des kleinen Mädchens auf dem Kamin ab. »Nur daß Claire - meine Claire - nicht tot ist, stimmt´s?«
Im Zimmer wurde es dunkler, das Licht hatte die Farbe des Whiskys angenommen, und jetzt besorgte Jericho den größten Teil des Gesprächs.
Später wurde ihm bewußt, daß er Romilly im Grunde nicht gesagt hatte, wie er alles durchschaut hatte: die Unmenge von winzigen Ungereimtheiten, die die offizielle Version unsinnig machte, obwohl vieles von dem, was Wigram ihm erzählt hatte, der Wahrheit entsprochen haben mußte.
Zuerst einmal ihr sonderbares Verhalten; die fehlende
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