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Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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weißen Blütenblätter auf ihn herabregneten wie Konfetti. Die anderen Trauergäste waren gegangen. Er hatte sein Gesicht in die Sonne erhoben, und nach der Art, wie er die Wärme aufzusaugen schien, vermutete sie, daß er sie lange entbehrt hatte. Als er sie kommen hörte, drehte er sich um und lächelte, und sie hoffte, daß ihr eigenes Lächeln ihren Schock verbarg. Seine Wangen waren eingefallen, seine Haut so wächsern wie die Kerzen in der Kirche. Sein Hemdkragen hing locker um seinen abgemagerten Hals. »Hallo, Hester.«
    »Hallo, Tom.« Sie zögerte kurz, dann reichte sie ihm ihre behandschuhte Hand.
    »Super Gottesdienst«, sagte Wigram. »Wirklich super. Das hat jeder gesagt, stimmt´s, Tom?«
    »Jeder. Ja.« Jericho schloß für einen Moment die Augen, und sie begriff sofort, was er ihr zu verstehen gab: daß er bedauerte, daß Wigram neben ihnen stand, aber daß er nichts dagegen tun konnte. Er gab ihre Hand frei. »Ich wollte nicht verschwinden«, sagte er, »ohne mich vorher zu erkundigen, wie es Ihnen geht.«
    »Nun ja«, sagte sie mit einer Fröhlichkeit, die sie nicht empfand, »so halbwegs.«
    »Wieder bei der Arbeit?«
    »Ja. Immer noch beim Ausfüllen von Formularen.«
    »Und immer noch im Häuschen?«
    »Bis jetzt. Aber ich werde wohl ausziehen, sobald ich eine andere Unterkunft gefunden habe.«
    »Zu viele Gespenster?«
    »Kann man so sagen.«
    Plötzlich war ihr die Banalität der Unterhaltung zuwider, aber ihr fiel einfach nichts Besseres ein.
    »Leveret wartet beim Wagen«, sagte Wigram. »Er wird uns zum Bahnhof fahren.« Durch das Friedhofstor hindurch konnte Hester die lange schwarze Haube sehen. Der Fahrer lehnte daran, beobachtete sie und rauchte eine Zigarette.
    »Sie wollen einen Zug erreichen, Mister Wigram?« fragte Hester.
    »Nicht ich«, sagte er, als wäre die Idee beleidigend. »Tom fährt. Nicht wahr, Tom?«
    »Ich fahre zurück nach Cambridge«, erklärte Jericho. »Um mich dort ein paar Monate auszuruhen.«
    »Wir sollten jetzt wirklich losfahren«, drängte Wigram mit einem Blick auf die Uhr. »Man kann nie wissen - es besteht immer die Möglichkeit, daß der Zug pünktlich ist.«
    Jericho sagte gereizt: »Würden Sie uns bitte für eine Minute entschuldigen, Mister Wigram?« Ohne eine Antwort abzuwarten, führte er Hester von Wigram fort in Richtung Kirche. »Dieser verdammte Kerl läßt mich keine Minute allein«, flüsterte er.
    »Hören Sie, wenn es Ihnen nichts ausmacht - würden Sie mir einen Kuß geben?«
    »Was?« Sie war nicht sicher, ob sie richtig gehört hatte.
    »Einen Kuß. Schnell. Bitte.«
    »Na schön. Es fällt mir nicht sehr schwer.« Sie nahm ihren Hut ab, beugte sich vor und drückte ihre Lippen auf seine magere Wange. Er umfaßte ihre Schultern und sagte leise in ihr Ohr: »Haben Sie Claires Vater zu dem Gottesdienst eingeladen?«
    »Ja.« Er ist verrückt geworden, dachte sie. Der Schock hat sein Denken beeinträchtigt. »Natürlich habe ich das getan.«
    »Was ist passiert?«
    »Er hat nicht geantwortet.«
    »Ich habe es gewußt«, flüsterte er. Sie spürte, wie sein Griff sich verstärkte.
    »Was haben Sie gewußt?«
    »Sie ist nicht tot…«
    »Wie rührend«, sagte Wigram, der von hinten herankam, laut. »Ich störe Sie nur äußerst ungern, aber Sie werden Ihren Zug verpassen, Tom Jericho.«
    Jericho gab sie frei und trat einen Schritt zurück. »Passen Sie gut auf sich auf«, sagte er.
    Einen Moment lang konnte sie nicht sprechen. »Sie auch.«
    »Ich werde Ihnen schreiben.«
    »Ja. Bitte, tun Sie das.«
    Wigram zupfte ihn am Ärmel. Jericho lächelte ihr noch einmal zu, dann zuckte er die Achseln und ging neben seinem Begleiter davon.
    Sie sah ihm nach, wie er unter Schmerzen den Weg entlangging und dann durch das Friedhofstor. Leveret öffnete die Wagentür, und Jericho drehte sich noch einmal um und winkte. Sie hob gleichfalls die Hand, sah, wie er sich steif auf den Rücksitz manövrierte, dann wurde die Tür zugeschlagen. Sie ließ ihre Hand sinken.
    Nachdem der große Wagen abgefahren war, blieb sie noch mehrere Minuten stehen. Dann setzte sie ihren Hut wieder auf und kehrte in die Kirche zurück.

2.
    »Das hätte ich fast vergessen«, sagte Wigram, als der Wagen die Anhöhe hinunterfuhr. »Ich habe Ihnen eine Zeitung gekauft. Für die Reise.«
    Er öffnete seinen Aktenkoffer und holte ein Exemplar der Times heraus, schlug die dritte Seite auf und reichte sie Jericho. Der Artikel bestand nur aus fünf Absätzen, daneben die Abbildung

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