Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
Vom Netzwerk:
Cambridge fuhr.
    Die Gleise begannen zu wimmern. Die Reisenden drängten vorwärts. Ein Militärzug fuhr langsam Richtung Süden vorbei, voll besetzt und mit bewaffneten Soldaten auf der Plattform der Lokomotive. Aus den Wagenfenstern blickten abgezehrte, erschöpfte Gesichter, und ein Murmeln lief durch die Menge. Deutsche Kriegsgefangene! Deutsche Kriegsgefangene unter Bewachung! Einen Augenblick lang begegneten sich Jerichos Augen und die eines Gefangenen - eulenhaft, bebrillt, unmilitärisch; mehr Intellektueller als Soldat -, und etwas vollzog sich zwischen ihnen, ein blitzartiges Erkennen über den Abgrund des Krieges hinweg. Ich könnte du sein, schienen die Augen des Gefangenen zu sagen, du könntest ich sein. Eine Sekunde später war er verschwunden, und kurz darauf fuhr der Expreß nach London ein, überfüllt und schmutzig.
    »Schlimmer als der Zug mit den verdammten Gefangenen«, beklagte sich ein Mann.
    Jericho konnte keinen Platz finden, also blieb er stehen, gegen die Tür im Gang gelehnt, bis sein kreidebleiches Gesicht und der Schweißfilm auf seiner Stirn einen jungen Offizier dazu bewegten, ihm seinen Platz zu überlassen. Jericho setzte sich dankbar hin und döste bald ein. Er träumte von dem deutschen Kriegsgefangenen mit dem traurigen Gesicht und dann von Claire auf ihrer ersten gemeinsamen Fahrt kurz vor Weihnachten, und davon, wie sich ihre Körper berührt hatten.
    Um 2.30 Uhr war er in London am Bahnhof St. Pancras.
    Mühsam quälte er sich durch die Menge auf den Eingang zur Untergrundbahn zu. Der Aufzug war außer Betrieb, also mußte er die Treppe benutzen und auf jedem Absatz stehenbleiben, um wieder zu Atem zu kommen. Sein Rücken pochte, und etwas Feuchtes rieselte an seinem Rückgrat herunter, aber er konnte nicht sagen, ob es Schweiß war oder Blut.
    Auf dem Bahnsteig für die in Richtung Osten fahrenden Züge huschte eine Ratte durch den Müll neben den Schienen und verschwand im Tunneleingang.
    Als Jericho nicht aus dem Zug aus Bletchley aussrieg, war Kite etwas verärgert, machte sich aber keine Sorgen. Der nächste Zug war zwei Stunden später fällig, ganz in der Nähe des Bahnhofs gab es eine gute Kneipe, dort verbrachte der Portier die Wartezeit, in der erfreulichen Gesellschaft von zwei halben Litern Bier und einer Schweinspastete.
    Aber als der zweite Zug in Cambridge einlief und immer noch keine Spur von ihm zu entdecken war, verfiel Kite in einen Mißmut, der die halbe Stunde anhielt, die er brauchte, um zum King´s College zurückzulaufen.
    Er informierte den Verwalter über Jerichos Nichterscheinen, und dieser informierte den Rektor, und der Rektor überlegte hin und her, ob er das Außenministerium anrufen sollte oder nicht.
    »Keine Rücksichtnahme«, beklagte sich Kite in der Portiersloge bei Dorothy Saxmundham. »Keine Spur von Rücksichtnahme.«
    Mit der Lösung in der Tasche verließ Tom Jericho Somerset House und wanderte am Embankment entlang langsam westwärts, dem Herzen der City entgegen. Das Südufer der Themse war ein Trümmerfeld. Über den Docks hingen silberne Sperrballons, die sich in der Nachmittagssonne drehten und glänzten.
    Unmittelbar hinter der Waterloo Bridge, vor dem Eingang zum Savoy, gelang es ihm endlich, ein freies Taxi zu finden, und er wies den Fahrer an, ihn zu Stanhope Gardens in South Kensington zu bringen. Die Straßen waren leer. Sie kamen schnell dort an.
    Das Haus war groß genug, um eine Botschaft zu beherbergen, mit einer stuckverzierten Fassade und einem von Säulen flankierten Eingang. Es mußte einst beeindruckend gewesen sein, aber jetzt war der Verputz grau und blätterte ab, und an manchen Stellen hatten Granatsplitter große Brocken herausgesprengt. Die Fenster der beiden oberen Stockwerke waren verhängt und blind. Das Haus nebenan war ausgebombt, im Keller wucherte Unkraut. Jericho stieg die Stufen der Vortreppe hinauf und drückte auf die Klingel. Sie schien weit entfernt zu läuten, tief in den Eingeweiden des toten Hauses, und hinterließ eine schwere Stille. Er versuchte es noch einmal, obwohl er wußte, daß es sinnlos war, dann zog er sich auf die andere Straßenseite zurück, setzte sich auf die Stufen des gegenüberliegenden Hauses und wartete.
    Fünfzehn Minuten vergingen, dann erschien, vom Cromwell Place her kommend, ein hochgewachsener, kahlköpfiger Mann, erschreckend mager - ein Skelett in einem Anzug -, und Jericho wußte sofort, daß er es sein mußte. Schwarzes Jackett, graugestreifte Hose, eine graue

Weitere Kostenlose Bücher