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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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Ihr Leben hatte gerade begonnen. Was hatte sie ein Umbau in diesem Haus interessiert. Oder wie die Eltern lebten. Beim Hinuntersteigen in den ersten Stock. Sie hob den Kopf. Sie zog das Genick hoch und schob den Kopf in die Rundung des Gelenks. Hob das Kinn. Ein Knacken. Ein Knacksen. Der Arzt hatte ihr gesagt, wie das hieß. Wie diese Ablagerungen hießen. Weiter nicht schlimm. Altersgemäß. Sie hatte sich nicht daran gewöhnt, etwas von innen zu hören. Etwas von sich innen. Sie stieg vorsichtiger. Federte in den Knien. Der Gedanke, hier als Kind hinuntergehüpft zu sein. So spinnenleicht gewesen zu sein. Sie zog den Riemen des Rucksacks zurecht. Schwang die Handtasche auf die linke Schulter. Sie sollte den Rucksack richtig tragen. Mit beiden Riemen über die Schultern. Das Genick weniger belasten. Die Schultern entlasten. Aber sie war ja gleich beim Auto. Bis dahin reichte diese Art von Gleichgewicht. Musste diese Art von Gleichgewicht reichen. Sie musste hart bleiben. Härter. Sie durfte sich nicht so überwältigen lassen. Der Geschichtsträchtigkeit ihrer Probleme so viel Raum lassen. Kämpfen, sagte sie sich. Kämpfen. Vorsichtig und kämpfen. Alles war neu. Alle Reaktionen und Umstände unbekannt. Und niemandem zu vertrauen. Das war das Neueste. Daran konnte sie sich am schlechtesten gewöhnen. Das musste sie sich jeden Augenblick vorsagen. Immer wieder. Dass niemandem zu vertrauen war. Weil niemand das Ausmaß ihrer Zerstörung wissen durfte. Niemand durfte auch nur ahnen, dass sie wirklich alles verloren hatte. Keiner. Keiner wollte mit einer so unglücklichen Person auch nur reden. Sie sah sich selbst. Die Stiegen hinuntersteigen. Eine gut aussehende Frau. Eine interessante Frau. Eine Frau im schwarzen Strenesse-Hosenanzug und in Pradaschuhen auf dem Weg zum Flughafen. Eine dünne Schicht Haut konnte sie sich noch vorstellen. Glasdick diese Schicht Haut. Und dann hohl. Leer. Und der Weinanfall vor der Sydler Nachweis genug. Sie musste wirklich sehr vorsichtig sein. Wenn sie noch einen Augenblick länger an sich als Kind dachte. Und dass sie nun hierher zurückkommen hatte müssen. Mit nichts. Dass sie nichts vorzuweisen hatte. Für das ganze Leben bisher. Dass sie alles verloren hatte. Sie ging. Sie dachte nach, ob diese Außenhülle. Würde sie zerbrechen. Zerschellen. Wenn jemand es aussprach. Oder sie es laut sagte. Was für eine Versagerin sie war. Und wie bedrängt. Und dass das ihr Leben bedeutete. Ihr Leben bedrohte. Oder würde diese Hülle in sich zusammen. Dann doch nur die Kleider und ein Bündel auf dem Boden. Und was würde mit dem dunklen Inneren geschehen. Würde sie eine hautlose Dunkelheit sich weiter quälen müssen. Würde sie dann noch einen Sitz brauchen. Im Theater. Beim »Ottokar«. Bei den Salzburger Festspielen. Sie lachte auf. Sie hatte jetzt viele soziale Ideen. »You live and learn«, sagte sie sich vor. Sie ging wieder schneller. Im ersten Stock alles genau so wie bei ihnen oben. Der weite Gang. Die Helligkeit. Die Hitze. Die Wellen Licht an der beigen Wand. Das Licht auf dem Stiegenabsatz von beiden Seiten zusammenfloss und jede Linie und Farbtönung auf den Steinplatten genau zu sehen. Sie ging wieder mit den längeren Schritten. 5 Schritte waren das zwischen den Stiegen. Pass. Ticket. Kreditkarten. Handy. Sie hatte alles mit. Der Vertragsentwurf. Englisch und deutsch. Sie musste noch einen Kugelschreiber kaufen. Aber wahrscheinlich war im Hotel einer zu finden. Jonathan Gilchrist musste noch beim Abendessen festgenagelt werden. Und die Unterschrift durfte nicht am Fehlen eines Schreibgeräts scheitern. Bis man sich vom Kellner etwas zum Schreiben ausgeborgt hatte, hatte Jonathan sich das schon wieder überlegt. Und sie durfte ihre Probleme nicht auf das Projekt übertragen. Sie musste das auseinander halten. Jonathan wusste nichts von ihren Problemen. Er durfte nichts von ihren Problemen ahnen. Nicht einmal irgendetwas durfte er ahnen. Sie musste sich vorsagen, dass es immer schwierig gewesen war. Mit ihm. Mit dem Royal Court. Das waren immer jahrelange Verhandlungen gewesen. Das hatte immer nur jedes fünfte Mal funktioniert. Sie durfte auch nicht zu uninteressiert wirken. Sie musste das richtige Maß an Leidenschaft finden. Für ihr Projekt. Aber es durfte nie durchscheinen, dass es lebensnotwendig war. Für sie. »Sprezzata desinvoltura.« murmelte sie sich vor. »Gerade das richtige Maß an sprezzata desinvoltura. Meine Liebe.« Sie stieg hinunter. Federnd. Hielt sich

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