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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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Sie war zu offen. Sie drängte sich auf. Deshalb erfuhr sie dann nie. Deshalb fand sie nie heraus, was jemand wollte. Was die anderen wollten. Sie überschüttete alle. Umarmte alle. Vertraute allen. Vertraute allen gleich in allem. Sie sah die Frau an. Die Frau blickte zu ihr hinauf. Sie sahen einander in die Augen. Einen Augenblick hatte Selma Vertrauen. Verstand die Frau. Fühlte sich von der Frau verstanden. Einen Augenblick. Ein großes, warmes Gefühl. Die Möglichkeit eines großen, warmen Gefühls. Sie kannte diese Person ihr Leben lang. Fast ihr ganzes Leben lang. Die Dr. Sydler konnte sich an sie erinnern. Die Dr. Sydler konnte sich an sie als kleines Mädchen erinnern. Die Dr. Sydler hatte sie schon als kleines Mädchen so angesehen. So aufmerksam. Abwartend. Freundlich. Und dann gleich der Druck um den Hals. Die Kehle verschlossen. Tränen aus dem Druck zu quellen drohten. »Ich gehe jetzt besser.« sagte sie. »Ja. Selma. Gib Acht auf dich.« Ganz kurz hätte sie die Frau umarmen können. Aber sie stand zu weit weg. Die Entfernung war zu groß. Sie ging. Sie wandte sich um. Schaute über die Schulter auf die Frau zurück. »Bis dann.« rief sie. Und sie wäre ja gleich wieder zurück. Sie ging schnell. Sie drehte sich an der Stiege um. Die Frau stand in der Tür. Sie nickte ihr zu. Hob die Hand mit dem Schlüssel. Hielt den Schlüssel in die Höhe. Selma winkte. Sie lief die Stiegen hinunter. Sprang die Stiegen hinunter. Ihre Sprünge nur einen dumpfen Widerhall von den Stufen. Die Schuhe lautlos. Sie fuhr nach London. Alles funktionierte. Sie flog nach London. Eine Reise. Sie konnte nachdenken. Unterwegs. Sie konnte unterwegs über alles nachdenken. Durchdenken. Alles durchdenken. Sie fuhr weg. Fort. Allein sein. Sie war in transit. Nicht erreichbar. Und das Allein-Sein ein Bestandteil der Reise. Das Allein-Sein richtig. Notwendig. Anerkannt. Von allen verstanden. Für die anderen verständlich. Es war nicht dieses Allein-Sein in Wien. Dieses Sich-in-die-Ecken-Drücken. Sie musste nicht diesen Blick spielen. Sich ganz nach hinten setzen und dann so schauen, als erwarte sie noch jemanden. Sie musste nicht immer eine Zeitung oder ein Buch in der Tasche haben und sich beschäftigen. Unterwegs. Da durfte sie vor sich hin starren. Da durfte sie dösen. Da konnte sie in Anblicke versinken. Da kam niemand auf die Idee zu fragen, wo der Toni wäre. Sie durfte fraglos allein sein. Sie ging ja mittlerweile nur noch aus Trotz aus. Ging irgendwohin. Die meisten. Und das waren sogar die Netteren. Niemand wollte mit ihr reden. Nur die Monster mochten sich noch mit ihr abgeben. Mit ihrer Unglücksserie. Die Netteren fragten gar nichts mehr. Gingen einem aus dem Weg. Und sie hatte das ja auch immer getan. Sie war ja auch irgendwie verschwunden, wenn sie auftauchten. Die Beladenen. Die Verlassenen. Die Entlassenen. Sie sah sich selber. Nach hinten gehen. In die Menge verschwinden. Sich ein Glas holen. Ans Buffet gehen. Sich umdrehen. Langsam. So nebenbei. Den Blick weglenken. Langsam. Fließend. Die Person gerade noch in den Blick gekommen. Der Umriss. Und das Weggleiten hatte eingesetzt. Jetzt kannte sie diese Welle des Wegwendens als Umriss. Jetzt war sie eine Silhouette, deren Auftauchen dieses sanfte Abwenden auslöste. Es war auch komisch. Es war kitschig komisch. Und immer ein kleiner Funke, es verdient zu haben. Dass das alles verdient war. Ihr recht geschah. Aber sie war nicht schuld. Es war keine Schuld, Leuten zu vertrauen. Sie ging langsamer. Der Stiegenabsatz im 2. Stock dunkel. Beide Parteien hatten ihre Wohnungstüren an den Stiegenabsatz vorgeschoben. Hatten ihre Wohnungen verlängert. Um den Gang. Brachten die Hitze in ihre Wohnungen, sagte der Vater. Verstauten die Hitze hinter den vorgeschobenen Doppeltüren. Eine Reihe Glasziegel entlang der neuen Türen. Das Sonnenlicht verfing sich im Glas. Erreichte den Raum nicht. Es roch nach Knoblauch. Nach frisch geröstetem Knoblauch. Sie hatte gar nicht gewusst, dass bei den Dallmayers jemand zu Hause war. Sie hatte gedacht, die wären alle weggefahren. Sie ging die Steinbrüstung entlang. Da hatte sie schon nicht mehr zu Hause gewohnt. Diese Umbauten. Die hatte sie dann schon vorgefunden. Da war sie aus Mailand gekommen. Zu Weihnachten. Die Veränderungen abgeschlossen. Die Dallmayers sich die Sommerhitze schon in die Wohnung geholt hatten. Die Mutter über den Baustaub geklagt hatte. Und ihr war das alles gleichgültig gewesen. Vollkommen gleichgültig.

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