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Entfernung.

Entfernung.

Titel: Entfernung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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wollte keinen Schlüsselbund. Auf einem einzigen Schlüssel für alle Schlösser hatte er bestanden. Damit er ihn bequem im Täschchen in der Weste tragen konnte. Und jetzt ließ er ihn liegen. Sie drehte sich von der Tür weg. Sie ging zum Asparagus zwischen den Fenstern. Der Blumenstock auf einem niedrigen schmiedeeisernen Tischchen mit hellgrünen Kacheln als Tischplatte zwischen den Fenstern. Das grün durchsichtige Gewirr der nadeligen Zweige reichte bis hoch in die Mitte der Fenster hinauf. Fielen in großen Bögen fast bis zum Boden hinunter. Sie beugte sich zu dem Blumenstock. Griff in den Topf. Die Asparagusnadelchen sanft stichelig auf dem Handrücken. Sie fühlte die Erde. Nass. Die Erde war nicht feucht. Die Blumenerde war nass. Die Sydler war also wieder gegangen und hatte den Blumenstock gegossen. Nachdem sie ihn schon gegossen hatte. Also auch der Asparagus eingehen würde. Auch dieses Blumentischchen würde auf die anderen Blumentischchen gestapelt werden. Das Blumentischlager in der Dienstmädchenkammer hinter der Küche würde dann vollständig sein. Dann waren alle da gelagert. Die hohen Blumentischchen mit den Blechwannen aus dem 19. Jahrhundert. Die niedrigen art-déco-Tischchen. Helles Holz und abgerundete Tischbeine. Die schmiedeeisernen Blumentische mit den Kacheln. Aus den 50er Jahren. Wenn der Asparagus tot war. Dann waren alle Blumentische in der Kammer gelandet. Dann war der letzte Blumenstock von der Mutter tot. Und Asparagus. Da gab es eine Regel. Asparagus durfte nicht gegossen werden. Irgendwann. Sie wusste nicht mehr, wann das sein sollte. Sie griff noch einmal in den Topf. Griff in die feuchte Erde. Sie konnte sich nicht erinnern. Sie konnte sich an keine dieser Regeln erinnern. Sie war hier gestanden. Sie hatte ihre kleine Kindergießkanne gehabt. Sie war mit der Mutter hier gestanden und hatte Blumen gießen dürfen. Sie konnte sich fühlen. Wie sie da gestanden war. Die Spannung in den Füßen vom Auf-den-Zehenspitzen-Stehen. Vom Sich-Hochrecken, um alle diese Blumen erreichen zu können. Es war nicht aus den Fenstern zu sehen gewesen. Vor Blumen. Sie konnte sich fühlen. Klein. Angespannt. Sich hochstreckend. Begierig, das Wasser in die Blumentöpfe zu leeren. Dem Wasser zuzusehen, wie es in die Erde rann. Wie es in der Erde verschwand. Die Mutter hinter ihr. Die Mutter stand hinter ihr. Sie konnte sie fühlen. Hinter sich. Ein Wesen. Vorstellen konnte sie sie nicht. Vorstellen konnte sie sich die Mutter nicht mehr. Und der Asparagus hatte nun schon lange überlebt. Sie stand da. Sah hinaus. Sie sah auf den Schönborn-Park. Auf die Feuermauern dahinter. Die Dächer. Die Hügel des Wienerwalds. Weit hinten. Dunstig verschleiert. Sie musste aufpassen. Sie durfte nicht verbittert werden. Verbitterung. Das sah man in den Gesichtern. Und sie hatte diese Linien von der Mutter geerbt. Diese Linien von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln. Die die Mundwinkel nach unten zogen. Sie richtete sich auf. Zog die Schultern nach hinten. Vielleicht war es ja gut, wenn der Asparagus so viel Wasser bekam. Bei dieser Hitze. Die Pflanze sah nicht krank aus. Und man musste alles innen behalten. Es durfte nichts zu sehen sein. Außen. Auch in der Haltung nicht. Sie trat an das Fenster. Sah hinunter. Die Autos auf der Lange Gasse Grün hatten. Die Ampel an der Kreuzung zur Florianigasse auf Grün umgeschaltet. Sie sah die Autodächer anfahren. Eine Prozession von silbernen und grauen Autos zwischen den parkenden Autos durch. Die Gehsteige fast leer. Sie schob den Riemen des Rucksacks über die Schulter zurück hinauf. Sie ging den Gang entlang. Am Stiegenhaus vorbei. Sie trat immer nur einmal auf eine der großen Specksteinplatten. Als Kind hatte sie hüpfen müssen. Jetzt musste sie nur längere Schritte machen. Aus dem Stiegenhaus ein Lufthauch. Kein Geräusch. Ihre Schuhe lautlos. Die Pradaschuhe hatten Gummisohlen. Sie hatte sie genommen, weil sie »Prada« in Weiß auf ein schmales glänzend rotes Bändchen auf der Zunge unter den Schuhbändern geschrieben hatten und an der Sohle. Die Ferse herauf. Für Jonathan Gilchrist waren solche Signale wichtig. Und wenn es regnete. Dann hielten diese Schuhe die Nässe aus. Die Wettervorhersage hatte nichts von Regen gesagt. Aber in London wusste man nie. Sie blieb vor der Tür am anderen Ende des Gangs stehen. Die Tür weiß. Neu gestrichen. Ein Spion über dem Namensschild. Dr. Evelyn Sydler. Psychotherapie. Über der Tür links oben der kleine beige

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