Entführung des Großfürsten
in jedem Fall müssen wir erst einmal an den rastlosen D-Doktor herankommen. Wie machen wir das?«
»Über Freyby. Sicherlich steht der Butler mit Lind in Verbindung.«
»Ich denke die ganze Zeit über Mr. Freyby nach.« Fandorin stieg die Treppe hinauf und öffnete die Tür. »Irgend etwas paßt nicht zusammen. Wenn er wirklich Linds Mann ist, wieso hat er Sie dann vor einem Spion gewarnt? Und wieso hat er g-gesagt, Sie sollen sich seinen Herrn besser anschauen? Da stimmt was nicht. Können Sie sich nicht erinnern, was er wörtlich gesagt hat?«
»Ich kann mich sehr gut erinnern. ›Sie schauen besser heute.‹ Ich habe jedes Wort im Wörterbuch nachgeschlagen.«
»Hm. Aber wie war das auf englisch? You … watch out today?«
»Nein, irgendwie anders.« Ich runzelte die Stirn und wühlte in meinem Gedächtnis. »Ein Wort mit dem Buchstaben ›b‹.«
»Mit ›b‹? Vielleicht better?«
»Ja, genau!«
»Na also, versuchen wir, den englischen Satz wiederherzustellen. »›Sie‹ – das ist you, ›schauen‹ – das ist see oder look, dann better, ›heute‹ – das ist today. ›You see better today‹ – das ist Unsinn. Folglich muß es heißen ›you look better today‹.
»Ja, richtig! Genau das hat er gesagt!« freute ich mich.
Fandorin breitete die Arme aus.
»Dann muß ich Sie enttäuschen, Sjukin. Das ist keine Empfehlung, Lind auf die Finger zu sehen, sondern bedeutet: ›Sie sehen heute besser aus.‹«
»Nichts weiter?« Ich war enttäuscht.
»Leider. Sie sind das Opfer einer wörtlichen Übersetzung geworden.«
Fandorin schien auf seinen kleinen Sieg stolz zu sein. Kein Wunder – nach dem gestrigen Reinfall war sein analytisches Genie gehörig verblaßt.
»Man darf sich nicht zu sehr auf die W-Wörterbücher verlassen. Und was den Spion angeht, da hat er Ihnen einen gescheiten Rat gegeben. Ich hätte das von Anfang an einkalkulieren müssen. In der Eremitage hat mit Sicherheit jemand für Lind spioniert. Der Doktor wußte alles: die Zeit Ihrer Ankunft, den Tagesablauf, sogar, wohin und in welcher Zusammensetzung Sie die kleine Ausfahrt unternommen haben. Banville, Carr und Freyby sind erst viel später in der Eremitage eingetroffen – sie wären gar nicht in der Lage gewesen, das alles herauszubekommen.«
»Wer ist dann der Spion?«
»Lassen Sie uns nachdenken.« Er setzte sich im Salon auf das Sofa, schlug die Beine übereinander. »Halt mal … Ja natürlich!«
Er hieb sich aufs Knie.
»Haben Sie gehört, wie der P-Postler gestern auf dem Chodynka-Feld, als er Sie sah, ›Sjukin‹ rief?«
»Natürlich habe ich das gehört.«
»Aber woher wußte er, daß Sie Sjukin sind? K-Kannten Sie sich denn?«
»Nein, aber er hat mich auf dem Postamt gesehen und mich im Gedächtnis behalten.«
»Wen hat er auf dem Postamt gesehen?« Fandorin sprang auf. »Einen Beamten des Ministeriums für Landwirtschaft. Der Postler mußte Sie eigentlich für den verkleideten Fandorin halten. Aber er hat seltsamerweise gewußt, daß Sie es sind, obwohl er Sie nie z-zuvor gesehen hat. Woher diese übernatürliche Hellsichtigkeit?«
»Nun, Lind wird es ihm später erklärt haben«, vermutete ich.
»Ja, gut möglich. Aber woher wußte der Doktor, daß Sie an der Operation teilnehmen? Den Brief, in dem ich das Treffen festsetzte, habe ich in meinem Namen geschrieben, ohne Sie auch nur zu erwähnen. Haben Sie jemandem g-gesagt, daß Sie mich in dieser riskanten Sache unterstützen?«
Ich zögerte ein wenig und kam zu dem Schluß, daß ich Fandorin in diesem Fall nichts verheimlichen durfte.
»Als wir in der Eremitage waren, habe ich zwei Menschen von unseren Plänen erzählt. Aber wenn ich Ihnen sage, wie es dazu kam, werden Sie verstehen, daß ich nicht anders konnte …«
»Wem?« fragte Fandorin rasch. »Die Namen!«
»Der Großfürstin …«
»Sie haben Xenia gesehen?« unterbrach er mich aufgeregt. »Was hat sie gesagt?«
Ich antwortete kurz angebunden: »Nichts. Sie hat mich versteckt, das ist alles.«
»Und wer war der zweite?« fragte Fandorin nach einem Seufzer.
»Mein Moskauer Gehilfe Somow. Ein feiner Mensch. Nicht nur, daß er mich nicht verraten hat, er hat mir sogar seine Hilfe angeboten.«
Ich gab den Inhalt meines Gesprächs mit Somow wieder, bemüht, mir alle Einzelheiten in Erinnerung zu rufen.
»Dann ist Somow der Spion«, folgerte Fandorin. »Das ist doch völlig klar. Er ist noch vor Ihrer Ankunft aus Petersburg in die Eremitage eingezogen. Er kannte das Haus und die Anordnung
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