Entführung des Großfürsten
verwundert. »Alle Großfürsten und Oberst Karnowitsch sind hier. Er verhörtschon seit Stunden Freyby. Der arme Oberst hat völlig den Kopf verloren. Meine Ankunft hat er kaum zur Kenntnis genommen, hat nur gesagt: ›Später erzählen Sie mir alles, ich habe jetzt Wichtigeres zu tun.‹ Ich wollte ihn über Lord Banville aufklären, aber er glaubt mir nicht! Er sagt, die Erschütterungen hätten mich verwirrt, können Sie sich das vorstellen? Er hält Freyby für Doktor Lind! Ich möchte Sie und Erast um Rat fragen. Vielleicht sollte ich noch einen Versuch unternehmen? Und Karnowitsch erklären, daß Freyby nur ein kleines Licht ist? Oder vielleicht erzählen, daß Sie die Juwelen der Zarin gefunden haben? Dann werden sich diese Herren schlagartig beruhigen und mir zuhören. Was soll ich tun?«
»Ach, Emilie, ich benötige selber einen Rat«, bekannte ich. »Mr. Freyby ist wahrscheinlich ganz unschuldig, aber soll Karnowitsch ihn ruhig weiter verhören, dann ist er wenigstens beschäftigt. Von den Juwelen sagen Sie besser nichts. Ich habe eine andere Idee …«
Ich stockte, denn die Idee war mir eben erst gekommen und noch nicht ausgereift. Ich nahm das Telephonbüchlein vom Tisch und schlug den Buchstaben P auf. Gab es dort den Sperlings-Park?
Während ich blätterte, sagte ich all das, was ich nicht über die Lippen gebracht hätte, wenn Emilie vor mir gesessen hätte.
»Ich bin so froh, Ihre Stimme zu hören. Gerade noch bin ich mir so unendlich einsam und verloren vorgekommen, aber jetzt geht es mir viel besser. Ich hoffe, Sie finden meine Worte nicht zu dreist?«
»Mein Gott, Athanas, manchmal sind Sie mit Ihrer Förmlichkeit einfach unerträglich!« rief sie. »Werden Sie mir dennnie das sagen, worauf ich warte? Klar und einfach, ohne Umschweife.«
Ich erriet sofort, was sie hören wollte, und bekam einen trockenen Mund.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, brabbelte ich. »Ich habe wohl auch so schon bedeutend mehr gesagt, als schicklich ist …«
»Sie weichen wieder aus!« unterbrach mich Mademoiselle. »Na schön, hol Sie der Kuckuck. Bei der nächsten Begegnung werde ich Ihnen das Geständnis entlocken. Aber jetzt erläutern Sie mir Ihre Idee. In Kürze. Jeden Moment kann hier jemand hereinkommen.«
Da erzählte ich ihr von Fandorins merkwürdiger Forderung.
Emilie hörte schweigend zu.
»Ich werde etwas anderes tun«, sagte ich. »Ich möchte mich noch heute mit Ihnen treffen und Ihnen die Schatulle und den ›Orlow‹ übergeben. Im Morgengrauen werde ich zu dem vereinbarten Treffpunkt gehen und von Fandorin eine Erklärung verlangen. Wenn seine Antwort mich zufriedenstellt und ich sicher bin, daß er den Stein für unsere Sache braucht, rufe ich Sie aus der Direktion des Sperlings-Parks an, dort gibt es ein Telephon, das habe ich gerade überprüft. Halten Sie sich bereit. Von der Eremitage zu den Sperlingsbergen ist es mit der Droschke eine Viertelstunde. Fandorin wird durch diese Vorsichtsmaßnahme nicht viel Zeit verlieren.«
Ich hörte ihren Atem, und diese leise Musik wärmte mir das Herz.
»Nein«, sagte Emilie nach einer sich hinziehenden Pause. »Ihre Idee, Athanas, gefällt mir überhaupt nicht. Erstens binich nicht sicher, ob es mir heute gelingt, die Eremitage unbemerkt zu verlassen. Und zweitens fürchte ich, daß wir Erast schaden. Ich vertraue ihm. Und Sie müssen ihm auch vertrauen. Er ist wirklich ein nobler Mensch. Außerdem ist er ein ganz besonderer Mensch, wie ich keinem zuvor begegnet bin. Wenn Sie den kleinen Prinzen retten wollen, gehen Sie zu dem Treffen mit Erast und tun alles genauso, wie er es gesagt hat.«
Ihre Worte berührten mich sehr unangenehm. Sie sprach ja schon wie Fandorin: »Erstens, zweitens«. Wie es dieser Mann verstand, Anbetung einzuflößen!
Ich fragte mit zitternder Stimme: »In einem solchen Maße vertrauen Sie ihm?«
»Ja, bedingungslos«, antwortete sie prompt und prustete plötzlich. »Nur nicht, was Kleider und Korsetts angeht.«
Eine umwerfende Frau – in einer solchen Minute zu scherzen! Doch sie wurde sofort wieder ernst.
»Ich flehe Sie an, Athanas, tun Sie, was er gesagt hat.« Sie stockte. »Und noch etwas … Seien Sie vorsichtig. Mir zuliebe.«
»Ihnen zuliebe?« fragte ich dümmlich zurück, was sich natürlich nicht gehörte, denn freimütiger hätte sich eine Dame, die auf sich hielt, nicht ausdrücken können.
Aber Mademoiselle wiederholte: »Ja, mir zuliebe. Wenn Herrn Fandorin etwas zustößt, so werde ich das, auch
Weitere Kostenlose Bücher