Enthuellungen eines Familienvaters
Hoffnungen mit, die in neun Jahren Algebra und Logarithmen aufgeblüht sind, auf einer Bank des Lyzeums, in die mein Name geschnitten ist.
Dann und wann gehe ich mit Margherita aus der Stadt hinaus, am Eisenbahndamm entlang, um die Züge vorbeifahren zu sehen. Auch Herr Luigi wird alt. Jedesmal, wenn ich einen Sprung nach Hause mache, beginnt nach den üblichen Freudenbezeigungen über den Besuch eine sonderbare Unterhaltung:
„Giovannino, kanntest du den Cavaliere Frotti?“
„Nein, Papa.“
„Neulich an Apoplexie gestorben. Und der Doktor Giovanelli, erinnerst du dich an ihn?“
„Nein, Papa.“
„Samstag abend an galoppierender Schwindsucht gestorben. Frisch wie’das Wasser, nicht einmal zweiundsiebzig. Ach ja...“
„Ach ja...“
„Der Professor Marietti, der 1918 das Palais der Brelli gekauft hat, entsinnst du dich seiner?“
„Nein, Papa.“
„Gestern in Palermo gestorben. Herzerweiterung.“
„Papa, entsinnst du dich des Commendatore Silicchi?“
„Ja!“
„Lebt.“
„Um so besser. Die Lebenshaltungskosten haben sich verdoppelt. Ach ja...“
„Ach ja...“
„Ein Autobus in eine Schlucht gestürzt, gestriger ,Corriere della Sera’. Sechsundzwanzig Tote. Bist du immer gesund?“
„Ja, Papa.“
„Freut mich. Eine Kunstdüngerfabrik in Wien in die Luft geflogen , ,Resto del Carlino’ vom Donnerstag. Vierzig Tote. Leistet dir mein Rasiermesser noch gute Dienste?“
„Ja, Papa.“
Frau Flaminia ist hingegen temperamentvoller und erzählt mir immer von dem neuen Speisezimmer, das der Mann meiner Schwester Rosina gekauft hat.
Mein Bruder, der mit jugendlichem Schwung das fünfunddreißigste Lebensjahr erreicht hat, beweist mir, daß seine neue Beschäftigung unendlich besser sei als jene, die er das letztemal in den Himmel gehoben hatte.
Großmutter Giuseppina hat sich ohne Aufsehen davongemacht und hat mir vor ihrer Abreise das Säckchen mit den 247 Lire und 58 Centesimi übergeben, alles in allerkleinster Münze.
Ich denke mit Wehmut an die ersten Kapitel.
Als ich an das Fahrrad gekettet dahinfuhr, baute ich mir eine Welt voll herrlicher Dinge, von denen nichts geblieben ist als das süße Geschöpf, welches der liebe Gott auf meinen Weg gestreut hat. Margherita ist noch dieselbe wie früher. Nein, sie ist besser als früher.
Sie ist zu einem Weib geworden. Wenn wir einander vor zwei Jahren nicht sehen konnten, hat sie mir noch lange Briefe mit wunderschönen Sätzen geschrieben: „Mein Gefühl für Dich überwindet die engen Grenzen der uns umgebenden Wirklichkeit und reicht in die ewige Zukunft. Meine Liebe zu Dir ist nicht ein Seelenzustand, sondern die Seele selbst, die von dieser Liebe bis zu einem solchen Grade durchdrungen wird, daß sie ihr eigentlicher Inhalt geworden ist...“
Wenn sie mir vor einem Jahr schreiben mußte, schickte sie mir kürzere und nervösere Briefe: „Ich kann Dir die Melancholie nicht schildern, die mich gestern abend erfaßt hat, als ich Dich vergeblich erwartete. Wenn Du mir fehlst, scheint mir das Leben selbst zu fehlen...“
Heutzutage schreibt sie nur Postkarten mit raschen, kraftvollen Sätzen: „... ich wußte, daß es vollkommen zwecklos war, Dich gestern abend zu erwarten. Ich glaube, auf Männer wie Dich ist kein Verlaß nicht.“ Margherita ist zum Weib geworden, sie hat großartig die neun Jahre Lyzeum vergessen und zögert nicht eine Sekunde, zu schreiben: „Dich gestern abend erwarten“ oder „kein Verlaß nicht.“
Hie wahre Liebe setzt sich über die Schranken des Todes und der Grammatik hinweg.
Margherita ist mein einziger Trost.
Gestern abend trafen wir einander wie gewöhnlich in der Bierwirtschaft vor der Stadt. Ich sprach viel und dürfte recht oft den Kellner um ein neues Glas Kognak gebeten haben. Und wirklich und wahrhaftig, eines schönen Augenblicks sah ich zwei Margheritas vor mir statt einer einzigen wie sonst. Die Erscheinung, an und für sich schon eigenartig, wird es noch mehr, wenn man bedenkt, daß es sich nicht um zwei gleiche Margheritas handelte. Die erste war die gewohnte, dunkle, mit ihren schwarzen Augen; sie saß. Die zweite, ebenfalls dunkel und mit schwarzen Augen, stand hinter der normalen Margherita, trug die Haare nicht auf die Schultern herabfallend, sondern mit schönen flatternden Bändern auf dem Scheitel zusammengebunden, und hatte eine Art langen grünen Capes, das ihr bis zu den Füßen reichte. Der linke Arm hing ganz natürlich herunter, aber der rechte war erhoben,
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