Enthuellungen eines Familienvaters
Wort spricht, wird er entlassen“, bemerkte der Wagenführer, ohne sich umzudrehen. „Aber sie fahren sitzend.“
Beim Ausfolgen der Fahrkarten informierte mich der Schalterbeamte höflich: „Fräulein Margherita ist schon da und erwartet Sie auf dem Bahnsteig. Warum kommen Sie nicht erst morgen früh zurück? Die Sonntagsfahrkarte gilt bis Montag mittag .“
Beim Lochen der Fahrkarte gab mir der Bahnhofsportier einen wertvollen Hinweis. „Bei der Rückfahrt nehmen Sie den Beschleunigten um 23.15, mit dem fährt kein Mensch. In Damengesellschaft ist man gern ungestört.“
Ich durchschritt die Unterführung und ging auf Margherita zu, die mich neben dem Erfrischungskiosk erwartete. Da kam jenseits der Gleise der Kellner Gigi aus dem Restaurant. „Herr Giovannino!“ rief er, „Straße Soundso, Nummer 15. Nicht vergessen! Ein Hotel, und was für eines!“
Einige Reisende schlossen sich dem Rat des Kellners Gigi vollinhaltlich an. Die beiden Träger, die jenseits der Gleise neben Gigi standen, schüttelten jedoch mißbilligend den Kopf. „Nein! Gehen Sie in die andere Straße!“ rief der erste. — „Das Richtige für Sie ist das Hotel Ypsilon in der Zet-Straße! Man verlangt nicht einmal die Ausweise!“ schrie der zweite. Im Zug fragte ich Margherita: „Du hast niemandem etwas gesagt, nicht wahr?“
„Niemandem, nur meiner Freundin Maria hab’ ich es gesagt. Was ist mir anderes übriggeblieben? Sie hat meinen Mantel in Ordnung gebracht.“
„Das hast du gut gemacht“, stimmte ich zu. „Die Nachricht wird erst um drei Uhr nachmittags in die Vororte gelangen, und Herr Luigi wird heute abend nicht mehr dazu kommen, die Angelegenheit zu untersuchen.“
Die Leute in der Provinz haben einen sonderbaren Begriff von der Straßenbahn: sie ist nach ihrer Meinung etwas Grünliches, das auf Rädern über Schienen gleitet, um dem Stadtbild eine moderne Note zu verleihen. Sie bedienen sich der Elektrischen nur, wenn sie sich langweilen und irgendeine Abwechslung suchen. Sie geben im äußersten Fall zu, daß die Straßenbahn bequem ist, doch sie lehnen es ab, ihre Notwendigkeit anzuerkennen. Denn die Wege, die einer zurückzulegen hat, sind immer kurz, und wenn er sich beeilt, befindet sich der Provinzler in einer ernsten Verlegenheit: was soll er mit der gewonnenen Zeit anfangen?
Daher fragt der Provinzler, wenn er auf den Bahnhofplatz von Mailand geströmt ist, nie, welche Linie er nehmen muß, um zur Messe zu gelangen; er fragt einfach, in welcher Richtung man zur Messe kommt. Und wenn er die Auskunft erhalten hat, macht er sich entschlossen auf den Weg.
So befindet er sich, nachdem er den Bahnhof um 10 Uhr 35 in Richtung Mustermesse verlassen hat, nach Besichtigung der Arena, des Castello Sforzesco, der Station Porta Genova, des Bogens der Porta Romana, des Cinque-Giornate-Denkmals, gegen 22 Uhr im Angesicht der freundlichen Gewässer des Idroscalo.
Nun benimmt er sich genau so, wie ich mich benommen habe. Er bleibt stehen, er verhält sich einige Minuten schweigend, dann schüttelt er den Kopf und sagt genau die Worte, die ich gesagt habe: „Ich habe den Verdacht, daß wir nicht auf dem richtigen Weg sind.“ Um 22 Uhr 30 gelang es mir und Margherita dank der Hilfe eines Taxis, hungrig und müde die Lichter der Stadt wiederzusehen und uns an einen gedeckten Tisch zu setzen.
Schweigend nahmen wir Speisen und Getränke ein. Ich war in Sorge. Sofort zurückfahren? Nicht zurückfahren? Und Margheritas Eltern? Ich habe Margheritas Eltern niemals gesehen, aber ich kenne sie besser, als ich Herrn Luigi und Frau Flaminia kenne. Margherita hat sie mir mindestens tausendmal beschrieben. Allein die Tatsache, daß sich Margherita, um mich öfter sehen zu können, entschlossen hatte, jede Klasse drei Jahre lang zu besuchen, bot mir den überzeugendsten Beweis für ihre Strenge. Wenn wir in der Bierwirtschaft außerhalb der Stadt waren, wurde Margherita von Gedanken an ihre Eltern gepeinigt. Sie erzählte mir von den Ausreden unter Einbeziehung von Freundinnen, Kulturfilmvorführungen, klassischen Konzerten, pflegebedürftigen Kranken und Übungen religiöser Natur, die sie ausdenken mußte, um der höllischen Überwachung für einige Augenblicke zu entrinnen. Dann stand sie plötzlich auf, und niemand konnte sie mehr halten. „Ich muß gehen; wenn ich fünf Minuten später käme, würde mich mein Vater umbringen! Er hat ein südliches Temperament.“
Ich befand mich wirklich in einer sehr heiklen Lage: ein
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