Entrissen
gekommen ist?«, fragte Phil.
»Genau. Er hat vergeblich auf sie gewartet und schließlich die Polizei gerufen. Da war es schon weit nach Mitternacht. Anscheinend hat hier gestern Abend irgendeine Party stattgefunden. Er hat versucht anzurufen, aber es hat niemand abgenommen. Angeblich ist sie nicht die Art von Frau, die über die Stränge schlägt.«
»Jedenfalls nicht, wenn sie am nächsten Tag Unterricht hat«, fügte Anni hinzu.
»Hat er schon eine Aussage gemacht?«, wollte Phil wissen.
Clayton nickte. »Am Telefon. Er war ziemlich durch den Wind.«
»In Ordnung. Wir müssen später noch mal mit ihm reden.«
Anni sah ihn an, in ihrem Blick lagen Bestürzung und Unbehagen. »Da ist... äh ... da wäre noch was.«
Sie drehte sich um und deutete in Richtung Wohnzimmer, das dem Schlafzimmer gegenüberlag. Phil war froh, einen Grund zu haben, nicht länger Claire Fieldings Leiche anstarren zu müssen. Er folgte ihr und blieb auf der Schwelle zum Wohnzimmer stehen. Er sah sich um und versuchte instinktiv, sich ein Bild von ihrem Leben zu machen und darüber, was für ein Mensch sie gewesen war.
Der Raum war geschmackvoll eingerichtet. Viel Geld hatte Claire offenbar nicht gehabt, aber ungewöhnliche Akzente und die individuelle Note der Einrichtung deuteten darauf hin, dass sie ihr knappes Budget kreativ zu nutzen gewusst hatte. Bücher und CDs, Mitbringsel von Auslandsreisen und gerahmte Fotografien zeugten von einem erfüllten, abwechslungsreichen Leben.
Aber das war es nicht, was Anni gemeint hatte. Auf dem Couchtisch standen zwei Weinflaschen, weiß und rot, die eine leer, die andere halbvoll, daneben eine Flasche Limonade und mehrere Gläser. Zwischen den Gläsern und Flaschen lagen die Reste geöffneter Geschenke: Schachteln, Präsenttüten, zerknülltes Seiden- und Geschenkpapier. Auch die Geschenke selbst waren da: Spielzeuge aus Stoff und buntem Plastik. Strampelanzüge, Erstlingsmützen und Jäckchen, Socken und winzige Schuhe.
»Diese Party ...«, begann Anni.
»Oh nein ...«, sagte Phil nur. Er war sich bewusst, dass Anni ihn genau beobachtete, aber er konnte weder ihr noch Clayton in die Augen schauen. Sein Puls beschleunigte sich. Er versuchte, es zu ignorieren.
»Wie Sie sehen, hat eine von ihnen keinen Alkohol getrunken«, meldete sich eine Stimme aus dem Schlafzimmer.
Die drei wandten sich um. Nick Lines, der Gerichtsmediziner, richtete sich hinter dem Bett auf und sah Phil über den Rand seiner Brille hinweg an. Er war ein hochaufgeschossener Mann mit kahlrasiertem Schädel und einer Hakennase in einem ausgezehrten Gesicht. Die Leichenblässe passte zu seiner Erscheinung genau wie sein makabrer Humor. An Tatorten blühte er immer regelrecht auf, fand Phil. Zumindest soweit man bei einem Mann wie Lines überhaupt von Aufblühen sprechen konnte.
Nick Lines nahm die Brille ab und sah Phil an. »Was wohl damit zusammenhängt, dass sie, zumindest soweit ich nach einer ersten Untersuchung sagen kann, schwanger war.«
Wieder starrte Phil entsetzt auf den aufgeschlitzten Bauch der Frau. Er wagte nicht, die Frage zu stellen, die ihm und seinen zwei Kollegen im Kopf herumging. »Verdammt«, war alles, was er hervorbrachte.
»Korrekt«, sagte Nick Lines düster. »Sie war schwanger. Und bevor Sie fragen, die Antwort lautet nein. Keine Spur. Nirgendwo in der Wohnung. Sobald uns klar wurde, was Sache war, haben wir danach zuallererst gesucht.«
Phils Herz schlug immer heftiger, sein Puls raste. Er musste sich unbedingt beruhigen. In diesem Zustand würde er keinen klaren Gedanken fassen können.
Er wandte sich dem Gerichtsmediziner zu. »Was haben Sie sonst noch rausgefunden, Nick?«
»Nun, wie gesagt, es ist alles noch vorläufig, nageln Sie mich also nicht fest. Das Offensichtlichste zuerst: Fraktur der Nase, diverse Blutergüsse. Sie hat einen Schlag ins Gesicht erhalten. Und zwar einen sehr heftigen. Des Weiteren sieht es so aus, als sei ihr etwas in den Hals injiziert worden. Eine zweite Einstichstelle befindet sich am unteren Ende des Rückgrats. Natürlich weiß ich noch nicht, um was für eine Substanz es sich handelt, aber wenn ich raten müsste, würde ich sagen, es war etwas, das sie paralysiert hat.«
»Und die ... die Schnitte?«
Nick Lines zuckte mit den Schultern. »Mit einem gewissen Maß an Können ausgeführt. Nehmen Sie die Leiche im Flur - der Täter hat auf Anhieb die Arterie getroffen. Hier war es dasselbe. Ja, unser Mann wusste ziemlich genau, was er
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