Entrissen
1
Es klopfte an der Tür.
Claire Fielding und Julie Simpson tauschten einen überraschten Blick. Claire wollte aufstehen.
»Bleib sitzen«, sagte Julie. »Ich gehe schon.« Sie erhob sich vom Sofa und durchquerte das Wohnzimmer. »Wahrscheinlich hat Geraint bloß was vergessen. Wie üblich.«
Claire schmunzelte. »Oder er hat seine Meinung geändert und will mir seine
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doch nicht ausleihen.«
Lachend verschwand Julie im Flur. Claire setzte sich bequemer zurecht, lehnte sich in die Polster zurück und betrachtete die Geschenke auf dem Couchtisch: Strampler und andere Babybekleidung. Elternratgeber. Spielzeuge aus Plüsch. Und jede Menge Glückwunschkarten. Ursprünglich war Claire der Meinung gewesen, dass es Unglück brachte, die Geschenke schon vor der Geburt zu öffnen, aber die anderen hatten darauf bestanden. Also hatte sie nachgegeben und ihre anfänglichen Zweifel bald darauf vergessen.
Sie rutschte hin und her, um eine Sitzposition zu finden, in der ihr Körpergewicht sie nicht allzu sehr belastete. Dann strich sie sich über den riesigen Bauch. Nicht mehr lange. Sie beugte sich vor und nahm sich, ächzend vor Anstrengung, das Glas mit Fruchtlimonade vom Tisch. Sie trank einen Schluck und stellte es zurück. Dazu einen kleinen Zwiebel-Bhaji. Sie hatte einige Schauergeschichten gehört über Frauen, die sich während der Schwangerschaft andauernd übergeben mussten, weil sie nichts mehr vertrugen. Dieses Problem hatte Claire nicht, sie hatte Glück gehabt. Wahrscheinlich zu viel Glück, dachte sie und tätschelte ihren Bauch. Sie hoffte, dass ausschließlich das Baby dafür verantwortlich war, glaubte aber nicht recht daran. Manchmal wünschte sie sich, wie eine dieser Promifrauen zu sein - Posh Beckham oder Angelina Jolie -, die vier Tage nach der Entbindung schon wieder ihre alte Figur zurückhatten. Natürlich behaupteten solche Frauen immer, das allein durch Diäten und Sport geschafft zu haben, aber Claire war sich ziemlich sicher, dass Chirurgen dabei ihre Hand im Spiel hatten. Wie auch immer. Das wahre Leben sah anders aus - zumindest für Claire -, und sie hatte sich darauf eingestellt, dass sie hart würde trainieren müssen, wenn sie nach der Geburt wieder so aussehen wollte wie früher. Aber sie würde es schaffen. Und dann würde sie ein neues Leben beginnen. Nur sie und das Baby.
Die Angst und Depressionen der letzten Zeit gehörten endgültig der Vergangenheit an. Die Tränen, das Gefühl von Verlust - all das lag hinter ihr, sie hatte damit abgeschlossen. Inzwischen kam es ihr fast so vor, als seien all diese Dinge jemand anderem passiert. Sie hatte einiges durchstehen müssen, ja, aber die bitteren Erfahrungen waren nicht umsonst gewesen. Denn jetzt hatte sie das Baby.
Wieder lächelte Claire. Es mochte sein, dass sie irgendwann in ihrem Leben schon einmal glücklicher gewesen war, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, wann. Auf jeden Fall musste es sehr, sehr lange her sein.
Plötzlich hörte sie Geräusche aus dem Flur.
»Julie?«
Dumpfe Schläge gegen die Wand, dann ein Knall und Geräusche, die klangen, als würde jemand in ihrem Flur Fußball spielen oder einen Ringkampf veranstalten.
Oder wie ein Handgemenge.
Ein Schauer jagte Claire über den Rücken.
Oh nein. Alles, nur das nicht. Nicht er, nicht jetzt...
»Julie ...«
Diesmal war in Claires Stimme ein Anflug von Panik zu hören. Ein weiterer dumpfer Schlag, dann Stille. »Julie?« Keine Antwort.
Unter großen Mühen gelang es Claire, sich von der Couch zu erheben. Vor Anstrengung wurde ihr einen Moment lang schwindlig, doch davon ließ sie sich nicht beirren. Sie nahm ihr Handy vom Couchtisch, verließ das Wohnzimmer und trat in den Flur hinaus. Sie ahnte, wen sie dort vorfinden würde, und war bereit, Hilfe zu rufen. Wenn nötig, auch die Polizei. Alles, solange sie ihn nur schnell wieder loswurde.
Sie bog um die Ecke. Und blieb wie angewurzelt stehen, den Mund weit aufgerissen. Sie hatte Schlimmes erwartet. Aber das, was sie vor sich sah, gewiss nicht. Niemals.
Es war so grauenvoll, dass ihr Gehirn sich weigerte, die Szene, die sich ihr bot, überhaupt zu verarbeiten. Sekundenlang stand Claire einfach nur da, starr und fassungslos.
»Julie ...«
Dann erst bemerkte sie die Gestalt, die über ihre beste Freundin gebeugt dastand, und langsam begann sie zu begreifen. Sie begriff, dass ihr normales Leben mit dem Klopfen an der Tür ein jähes Ende gefunden hatte. Das, worin sie sich jetzt
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