Entrissen
aber seine Kopfverletzungen waren so schwer, dass er seitdem im Koma lag. Von den Krankenschwestern wusste Phil, dass Marina die ersten Tage an seinem Bett gewacht hatte.
Phil nahm auch weiterhin seine Verabredungen zum sonntäglichen Abendessen bei Don und Eileen wahr. Das erste Mal war das schlimmste gewesen. Eileen bereitete einen ausgezeichneten Braten zu, und der Duft und der Geschmack waren für Phil stets ein Symbol für häuslichen Frieden gewesen. Aber dieses Mal nicht. Er saß am Tisch und aß pflichtschuldig seine Portion, obwohl er nichts schmeckte. Es war ihm unmöglich, das Essen zu genießen.
Don war selbst Polizist gewesen, er wusste, was Phil durchmachte. Zumindest glaubte er es. Phil hatte ihnen von Clayton, Hester und Croft erzählt. Aber nicht von Marina. Sie stellten keine Fragen, aber er wusste, dass sie da sein und ihm zuhören würden, sollte er sich irgendwann entschließen, darüber zu reden. Und wenn nicht, dann wären sie trotzdem für ihn da.
Er ließ Messer und Gabel sinken, murmelte eine Entschuldigung und schob den Teller von sich.
Eileen nickte, sagte aber nichts.
Phil rührte sich nicht. Merkte kaum, dass er weinte.
Eileen legte ihre Hand auf seine. Don war neben ihm.
So saßen sie lange Zeit.
Und nun saß Phil allein in seinem Haus, trank Bier und hörte Musik.
Wieder betrachtete er unschlüssig den Brief. Er leerte seine Bierflasche, stellte sie weg und öffnete den Umschlag.
Lieber Phil,
es tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe. Ich weiß, was Du jetzt von mir denken musst, aber ich hatte keine Wahl. Bitte verzeih. Ich muss mir über einige Dinge klarwerden. Wichtige Dinge. Nicht nur über Dich und mich. Ich habe gedacht, nach der Sache mit Martin Fletcher würde mir nie wieder etwas so Schlimmes passieren. Ich habe mich geirrt. Auch wenn Du mich dieses Mal gerettet hast.
Du weißt, dass das Baby von Dir ist. Vielleicht sollten wir beide zusammen für den Kleinen da sein. Oder die Kleine. Ich weiß es nicht. Dann ist da noch Tony. Ich fühle mich schuldig wegen dem, was ihm passiert ist. Irgendwie fühle ich mich verantwortlich. Was immer zwischen ihm und mir oder Dir und mir vorgefallen ist, ich muss auch ihm gerecht werden.
Ich weiß, dass ich meine Gedanken nicht gut ausdrücken kann - ich schreibe einfach das, was ich im Augenblick empfinde.
Das ist alles ein großes Durcheinander. Ich brauche Zeit zum Nachdenken. Um mich neu zu sortieren. Ich hoffe, dass Du mir das zugestehst.
Und ich hoffe, Du weißt, dass ich Dich liebe. Egal, was auch passiert, ich liebe Dich. Kuss Marina
Phil legte den Brief zur Seite und hob die Bierflasche. Sie war leer. Er stand auf und ging in die Küche. Währenddessen dachte er über Marinas Worte nach. Guy Garvey sang gerade etwas von einem wunderschönen Tag, und Phil war weit entfernt davon, ihm zustimmen zu können. Die Worte des Pfarrers bei Claytons Beerdigung kamen ihm ebenfalls wieder in den Sinn. Das Geschenk der Hoffnung ...
Er holte sich ein neues Bier, mit dem er ins Wohnzimmer zurückkehrte. Er setzte sich und begann zu trinken. Der Gedanke kam ihm, dass ein Geschenk auch ein Fluch sein konnte.
Da klingelte es an der Tür.
Phil ignorierte es.
Es klingelte wieder, diesmal eindringlicher. Seufzend stellte er seine Bierflasche ab und ging zur Tür, um sie zu öffnen.
Und da stand Marina.
Sie schaute ihn an und lächelte zaghaft.
»Hey.«
»Selber hey.«
Phil öffnete die Tür ganz und ließ sie herein. Sie trat in den Flur und ging von da aus ins Wohnzimmer weiter. Phil folgte ihr.
Er sah sie dort stehen und wusste nicht, was er sagen oder tun sollte. Dann schaute er ihr in die Augen. Und wusste Bescheid. Da gab es keine Unschlüssigkeit mehr.
Er ging zu ihr und umarmte sie. Hielt sie, so fest er nur konnte.
Guy Garvey sang immer noch von einem wunderschönen Tag. Dieses Mal konnte Phil ihm nur zustimmen.
Impressum
Entrissen
von Tania Carver (Autor),
Sybille Uplegger (Übersetzer)
Preis: EUR 14,95
Broschiert: 489 Seiten
Verlag: List (12. März 2010)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3471350349
ISBN-13: 978-3471350348
Originaltitel: The Surrogate
ebook Erstellung - April 2010 - TUX
Ende
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