Enwor 1 - Der wandernde Wald
auf, schwang sich wieder in den Sattel und ritt ins Innere des Turmes hinein. Hinter dem Eingang lag eine weite, runde Halle, die den gesamten Innenraum einzunehmen schien. Sie besaß keine Fenster oder sonstige Öffnungen, und der schmale Lichtstreifen, der durch das Tor hereinfiel, reichte kaum aus, um mehr als vage Umrisse und Schatten wahrzunehmen.
Seshar drängte sein Pferd mit sanftem Schenkeldruck zur Seite und wartete, bis Skar und die anderen ihm gefolgt waren. »Ihr wart schon einmal dort unten«, sagte er. Er gab sich Mühe, leise zu sprechen, aber der hohe, leere Raum verzerrte seine Stimme und verlieh ihr einen unwirklichen, fast drohenden Nachhall. »Aber dieser Weg ist… anders. Wir müssen vorsichtig sein.«
Skar sah sich neugierig um. Seine Augen begannen sich allmählich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Der Boden war nicht eben, sondern fiel auf der rechten Seite sanft ab und wand sich, der Krümmung der Wand folgend, in der Art eines Schneckenhauses in die Tiefe. Ein schwacher Hauch tropischer Feuchtigkeit und Verwesung schien ihnen von unten entgegenzuwehen, und Skar fühlte sich erneut an seinen bizarren Traum erinnert. Er schauderte.
»Khtaäm?« fragte er.
Seshar nickte. »Ja. Aber sie können uns nicht gefährlich werden, wenn wir vorsichtig sind. Sie greifen hier unten nur an, wenn man sie provoziert.«
Skar sah für einen winzigen Moment die Vision von drei entstellten, verstümmelten Leichen vor sich, schwieg aber.
»Es gibt weniger als ein Dutzend Menschen in Cearn, euch mitgerechnet«, fuhr Seshar fort, »die von der Existenz dieses Turmes wissen. Und so soll es auch bleiben. Dort unten gibt es… Wächter, die darauf achten, daß kein Fremder diesen Weg benutzt. Euch kann nichts geschehen, wenn ihr bei mir bleibt und nicht vom Weg abweicht.«
»Wohin führt dieser Weg?« fragte Del.
»Nach unten. Zum Fluß«, antwortete Seshar. »Doch wir haben später viel Zeit, miteinander zu reden. Nun kommt.« Er schnalzte mit der Zunge, und sein Pferd trabte gehorsam los. Skar und Del folgten ihm in geringem Abstand, während Coar und Bernec den Abschluß bildeten.
Skar begann rasch zu begreifen, was Seshar gemeint haben mochte, als er sie gewarnt hatte, vorsichtig zu sein. Die Rampe führte in steilem Winkel in die Tiefe. Der verschwommene Halbkreis des Einganges fiel hinter ihnen zurück und verschwand schon bald hinter der Biegung des spiraligen Tunnels, aber es wurde nicht dunkel. Im Gegenteil. Decke und Wände des Ganges fluoreszierten in einem geheimnisvollen, grünlichen Schein, und als seine Augen sich an die unwirkliche Beleuchtung gewöhnt hatten, konnte er erstaunlich weit sehen.
Doch dieses Licht war nicht das einzig Unwirkliche hier unten. Irgend etwas Körperloses, Finsteres schien sie auf ihrer stummen Wanderung in die Tiefe zu begleiten, etwas, das er nicht beschreiben oder auch nur ansatzweise erfassen konnte und das ihm trotzdem einen eisigen Schrecken einjagte. Er hatte das Gefühl, durch eine unsichtbare Wolke purer Bosheit zu reiten, mit etwas — irgend etwas — unsagbar Fremdem und Tödlichem konfrontiert zu werden. Ein Empfinden, wie er es erst einmal in seinem Leben verspürt hatte, als er mit dem Hoger kämpfte. Aber diesmal war es stärker. Viel stärker.
Er drehte sich halb im Sattel um und sah Del an. Der junge Satai wirkte blaß und verkrampft. Seine Hände spielten nervös mit dem Zaumzeug des Pferdes, und sein Blick wanderte unablässig durch den gewölbten Stollen. Er spürte es also auch.
Skar atmete hörbar auf, als sie nach einer Ewigkeit den gewundenen Stollen verließen und in eine niedrigeren, ebenerdig verlaufenden Tunnel eindrangen. Das gleiche grünliche Licht, das sie auf dem Weg hier herunter begleitet hatte, herrschte auch in diesem Gang, aber es war schwächer und unregelmäßiger, und je weiter sie in das unterirdische Labyrinth vordrangen, desto häufiger passierten sie Stellen, an denen das mattleuchtende Grün von grauen, pockennarbigen Flecken durchsetzt war. Es wurde kälter, und nach einiger Zeit hörten sie wieder das dumpfe Grollen und Rauschen des unterirdischen Flusses. Der Stollen endete unvermittelt vor einem schwarzen, bodenlosen Abgrund.
Seshar stieg vom Pferd und deutete auf einen kaum meterbreiten, sanft nach außen geneigten Sims, der neben dem Abgrund an der Felswand entlangführte und sich irgendwo im Dunkel verlor. »Von hier ab müssen wir laufen und die Pferde führen«, sagte er. »Aber es ist nicht mehr
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