Enwor 1 - Der wandernde Wald
Plattform setzte sich mit leichtem Rucken in Bewegung. Der Boden fiel unter ihnen zurück und versank schließlich im anonymen Grau der Dämmerung. Skar fiel auf, wie still es war. Die Gespräche der Männer waren verstummt, und von oben drang das leise Knarren und Quietschen der Winde, die den Aufzug bewegte, herab. Die Plattform schwebte in gleichmäßigem Tempo höher, näherte sich dem Boden Ipcearns und verschmolz schließlich mit ihm. Ein sanfter Ruck ging durch die hölzernen Balken zu ihren Füßen, als irgendwo unter ihnen eine unsichtbare Halterung einrastete und sie sicherte.
Sie standen in einer weiten, von dämmerigem, rotem Fackelschein erleuchteten Halle, von deren Decke unzählige Taue und Stricke herabhingen. Die Plattform, auf der sie hinaufgekommen waren, war nicht die einzige. Ipcearn war durchaus darauf eingerichtet, mehr Besucher gleichzeitig aufzunehmen — oder hinauszulassen.
Skar sah sich neugierig um. Er hielt vergeblich nach einem Empfangskomitee oder irgendeinem anderen Zeichen menschlichen Lebens Ausschau. Der Raum war —mit Ausnahme von Mergells Gruppe und ihm selbst — vollkommen leer. Die Stricke verschwanden in kleinen runden Löchern unter der Decke, und als er genau hinhörte, glaubte er hoch über seinem Kopf das Geräusch leiser Schritte wahrzunehmen. Offenbar befanden sich die Winden, mit denen die Aufzüge bewegt wurden, dort oben.
Mergell berührte ihn an der Schulter und deutete auf einen bogenförmigen Durchgang am hinteren Ende der Halle. Skar nickte, trat von der Aufzugsplattform herunter und ging zögernd durch den Raum. Sie gingen durch das Tor, einen kurzen, niedrigen Gang entlang, von dem zahlreiche Türen nach rechts und links abzweigten, und anschließend eine ebenso schmale und niedrige Treppe hinauf. Überall in den Wänden gewahrte er schmale, nach oben spitz zulaufende Öffnungen, Schießscharten wahrscheinlich, und Boden und Decke waren mit einem Muster dunkler, regelmäßiger Linien überzogen, als verberge sich hinter ihrem scheinbar massiven Aussehen ein wahres Labyrinth von Falltüren und Klappen. Wer immer versuchen würde, Ipcearn auf diesem Wege zu stürmen, würde einen grausamen Blutzoll bezahlen müssen. Ipcearn mochte in seinem Äußeren an ein Märchenschloß erinnern, aber es war eine nahezu uneinnehmbare Festung.
Mergell geleitete ihn über ein wahres Labyrinth von Treppen und verzweigten Gängen tiefer ins Innere der Burg. Die Gruppe ihrer Begleiter schmolz allmählich dahin, und als Mergell schließlich stehenblieb und mit einer Kopfbewegung auf ein einfaches, hölzernes Tor deutete, war er mit Skar und Chaime allein. »Geh, Skar«, sagte er auffordernd. »Die Könige erwarten dich.«
Skar wandte überrascht den Kopf. »Jetzt gleich?« sagte er.
Mergell lächelte. »Warum nicht?«
»Aber ich dachte…«, murmelte Skar verwirrt. »Wir sind schmutzig und abgerissen von der langen Reise, und…«
»Äußerlichkeiten interessieren uns hier nicht, Skar«, fiel ihm Chaime ins Wort. Es war das erste Mal, daß Skar ihn überhaupt reden hörte. Seine Stimme war dunkler als die Mergells und schien auf unbestimmbare Art mehr Autorität und Ruhe auszustrahlen. »Du kannst dich später säubern und ausruhen. Nun geh.«
Skar zuckte die Achseln und trat langsam auf die Tür zu. Mergell und Chaime blieben zurück, warteten jedoch, bis er den Riegel zurückgeschoben und die Tür halb geöffnet hatte, ehe sie sich umwandten und gingen.
Skar trat langsam in den dahinterliegenden Raum und schob die Tür mit dem Fuß ins Schloß. Das Zimmer war kleiner, als er erwartet hatte, und entbehrte jeglicher königlicher Pracht — ein niedriger, rechteckiger Raum ohne Fenster, dessen gesamte Einrichtung aus einem Tisch und einer Anzahl dreibeiniger Hocker bestand. Eine einzelne Fackel verbreitete flackerndes rotes Licht, und in der Luft lag ein kaum wahrnehmbarer Duft, der ihn an Blumen und frisch gemähtes Gras erinnerte. Auf der gegenüberliegenden Seite gab es eine zweite, durch einen in schweren roten Falten fallenden Vorhang verschlossene Tür.
»Du bist also Skar«, sagte eine Stimme.
Skar fuhr erschrocken herum und gewahrte erst jetzt den Mann, der auf einem Hocker in einer Ecke des Raumes saß.
»Ich… bin Skar«, antwortete er überrascht. »Und Ihr…«
»Ich bin Seshar, der König von Ipcearn«, antwortete der Mann. Er stand auf, lächelte flüchtig und kam mit gemessenen Schritten auf ihn zu. Er war nur wenig älter als Skar, aber kleiner und
Weitere Kostenlose Bücher