Enwor 1 - Der wandernde Wald
von gebeugter Statur. Sein Haar war grau und dünn und ebenso mühsam wie vergeblich so gekämmt, daß es die beginnende Stirnglatze verbergen sollte.
»Einer der Könige«, schränkte er ein, nachdem er vor Skar stehengeblieben war und ihn eine Weile gemustert hatte. »Meine Gemahlin läßt sich entschuldigen, für den Moment. Sie wird dich später begrüßen.« Er deutete einladend auf einen der Stühle. »Setz dich, Skar. Du mußt müde von der anstrengenden Reise sein. Ich hoffe, ihr seid nicht behelligt worden?«
Skar schüttelte den Kopf und ging zögernd hinter Seshar her. Der König ließ sich mit einem leisen Seufzer auf einen der Stühle sinken, stützte die Unterarme auf der Tischplatte auf und legte die Hände übereinander.
»Du hast dich gut erholt, wie ich sehe«, sagte er. »Und auch deinem Kameraden geht es besser?« »Er ist gesund«, bestätigte Skar. »Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft und die Hilfe, die Euer Volk…«
Seshar blinzelte unwillig und machte eine rasche, ungeduldige Handbewegung. »Morgen«, sagte er, »werden wir dir zu Ehren ein Bankett geben. Dann kannst du dich bedanken, soviel du willst. Im Augenblick haben wir Dringenderes zu besprechen.« Er lächelte, als er den überraschten Ausdruck auf Skars Miene sah. »Es wird dich vielleicht verwundern, wenn ich so direkt und ohne Umschweife zur Sache komme«, fuhr er fort, »doch ich möchte, daß du alle Einzelheiten kennst, ehe du dich entscheidest.«
Skar wollte etwas sagen, aber Seshar schüttelte erneut den Kopf und sprach weiter: »Ich weiß, was wir von dir verlangen, Skar. Und ich kenne auch deine Antwort. Du bist nicht der erste, der den Weg nach Cearn findet.« Er stand auf, sah Skar für die Dauer von drei, vier Herzschlägen durchdringend an und winkte dann mit der Hand. »Komm mit mir, Skar.«
Skar erhob sich und folgte Seshar in den Nebenraum. Das Zimmer war größer als das, in dem sie bisher gewesen waren, und reichhaltiger möbliert. Kisten und schwere, geschnitzte Truhen reihten sich entlang der Wände, und links von der Tür stand ein gewaltiger, ovaler Tisch mit einer safranbraunen Platte und einem grünen, unregelmäßig geformten Aufbau. Seshar deutete darauf und hieß Skar mit einer auffordernden Geste näherzutreten.
Skar warf dem König einen verblüfften Blick zu, als er erkannte, was er vor sich hatte. Es war ein miniaturisiertes, mit unendlicher Geduld angefertigtes Modell Cearns. Das braune Material der Tischplatte stellte die Nonakesh dar, komplett mit der vorgelagerten, ringförmigen Düne, die Cearn wie ein natürlicher Wall vor dem Ansturm der Wüste und des Windes beschützte. Skar trat langsam näher und blickte fasziniert auf das winzige Modell des Waldes. Jeder einzelne Baum, jeder Tümpel und jeder Teich schienen vorhanden zu sein, jeder Fußbreit Boden war mit unendlicher Geduld und Kunstfertigkeit nachgebaut. Es gab ein Modell Wents, in dem er bei genauem Hinsehen sogar die Häuser Coars und Thorandas wiederzuerkennen glaubte.
»Das ist… phantastisch«, murmelte Skar.
Seshar nickte. »Aber es ist mehr als ein Spielzeug«, sagte er, Skars Frage vorwegnehmend. »Und ich habe es dir nicht nur gezeigt, um dich zu beeindrucken.« Er trat näher und strich mit der Hand dicht über den Wipfeln des Miniaturwaldes durch die Luft. »Was du hier siehst, Skar«, sagte er, »ist ein Plan. Der Plan unseres Lebens, unserer Vergangenheit und unserer Zukunft. Das Leben unseres Volkes, wenn du so willst. Es hat Jahrtausende gedauert, Cearn in seiner jetzigen Form erstehen zu lassen. Und es liegt in deiner Hand, es zu retten oder zu zerstören.«
»In… meiner Hand? Wie meint Ihr das?«
Seshar zögerte sichtlich. Sein Blick bohrte sich in Skars Augen, aber es schien, als sehe er etwas ganz, ganz anderes. »Ich habe dich nicht hierhergebeten, um dich zu überreden, in unseren Dienst zu treten, Skar«, sagte er leise.
»Aber Mergell sagte doch…« »Ich weiß, was Mergell gesagt hat«, lächelte Seshar. »Doch es gibt Dinge, die ich nicht einmal meine engsten Vertrauten wissen lassen darf — oder denen, die sich dafür halten. Hat man dir die Geschichte unseres Volkes erzählt?«
Skar nickte.
»Du wirst sie nicht geglaubt haben«, vermutete Seshar. »Doch sie stimmt. Cearn ist nicht unsere Heimat. Unser Volk stammt ursprünglich aus eineue Land, das sehr, sehr weit im Westen liegt. Weiter, als ihr gewandert seid, um zu uns zu gelangen, vielleicht weiter, als überhaupt ein Mensch zu gehen
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