Enwor 1 - Der wandernde Wald
imstande ist.«
»Ich glaube Eure Geschichte, Seshar«, sagte Skar ruhig. »Ich habe gesehen, wie Ihr den Wald von Cearn pflegt, und ich sah die Dünen und den neuen Wald.« Er deutete auf die kaum fingerbreite Mulde, die den westlichen Rand von Cearn wie ein nach vorne gerichteter Keil einfaßte. »Aber wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte… es ist unglaublich.«
»Vielleicht«, bestätigte Seshar. »Doch es war der einzige Weg für unser Volk, zu überleben. Wir wurden in die Nonakesh getrieben, und die einzige Möglichkeit zu überleben war die, das Unmögliche möglich zu machen.« »Aber warum?« fragte Skar. »Warum dieses ungeheure Vorhaben? Warum habt Ihr Euch nicht damit zufriedengegeben, in Cearn zu leben und —?«
»Weil wir es nicht können«, sagte Seshar. »Du machst dir ein falsches Bild von uns, Skar. Du hältst uns für friedlich, für ein Volk von Gärtnern und Blumenzüchtern, aber das sind wir nicht. In jedem einzelnen von uns brennt das Feuer der Rache. Nur der Gedanke, eines Tages die fruchtbaren Ebenen Urcs zurückzuerobern, gab uns die Kraft, die Wüste zu besiegen und diesen Wald zu erschaffen. Cearn war nicht immer so groß wie heute. Als wir unsere Wanderung begannen, war es nicht mehr als eine kümmerliche Oase, ein winziger Fleck fruchtbarer Erde, durch eine Laune der Natur inmitten der tödlichen Wüste erhalten geblieben. Kannst du dir vorstellen, Skar, welche Kraft, welch unbeugsamer Wille unser Volk beseelt haben muß, dies alles zu erschaffen und zu erhalten?«
Skar nickte stumm. Der Gedanke betäubte ihn fast. Er blickte auf den Tisch mit dem Modell — dem Plan — Cearns herab, und für einen winzigen Moment stieg eine Vision in ihm empor, wie es gewesen sein mußte, damals. Ein Volk, vertrieben und gejagt, die Handvoll Überlebender, die der Verfolgung eines grausamen Feindes entronnen war und die tödliche Hitze der Wüste überstanden hatte. Irgendwann, nach Tagen oder vielleicht Wochen einer Wanderung, auf der die meisten von ihnen einen grausamen Tod gestorben waren, hatten sie eine Oase gefunden. Und sie hatten Cearn geschaffen, vielleicht das größte Wunder, das es auf ganz Enwor gab. »Ja«, sagte er leise. »Ich glaube, ich weiß, was Ihr mir sagen wollt…«
»Ich habe dich hierhergebeten, um dich um deine Hilfe zu bitten«, fuhr Seshar fort, »doch auf eine andere Art, als du vielleicht denkst. Wir möchten, daß du gehst. Du und dein Freund.«
Skar war für einen Moment wie vor den Kopf geschlagen. »Ihr wollt«, stammelte er, »daß… daß wir…?«
»Natürlich nicht sofort«, sagte Seshar sanft. »Ihr könnt bleiben, bis ihr euch kräftig genug fühlt, der Nonakesh ein zweites Mal die Stirn bieten zu können, egal, wie lange es dauert. Ich kann deine Verwirrung nachfühlen, Skar. Mergell kam mit der Bitte zu dir, dich in unseren Dienst zu stellen, und nun stehe ich hier und bitte dich um gerade das Gegenteil. Doch du wirst verstehen, warum, wenn ich meine Geschichte zu Ende erzählt habe.«
»Ich begreife nur nicht, warum Ihr mich erst…«
»Geduld, Skar«, bat Sehsar. »Meine Gemahlin und ich mögen die Könige dieses Landes sein, doch wir sind nicht seine unumschränkten Herrscher.«
»Das… verstehe ich nicht«, gestand Skar.
Seshar lächelte. Er wandte sich um, ging zu einem Schrank und nahm einen Tonkrug und zwei einfache Becher hervor. »Setz dich, Skar, und trink einen Becher Wein mit mir.«
Skar warf einen letzten Blick auf das Modell neben sich und setzte sich dann zögernd in Bewegung. Seshar schenkte die beiden Becher voll, nahm selbst einen kleinen Schluck und wartete, bis Skar seiner Bitte gefolgt war und Platz genommen hatte. »Ich habe lange überlegt, ob ich dir die Wahrheit sagen soll, doch ich glaube, du bist kein Mann, den man auf Dauer belügen kann. Du und Del, ihr seid nicht die ersten, die den Weg zu uns gefunden haben.«
»Ich weiß«, nickte Skar. »Was geschah mit den anderen?«
»Sie starben«, antwortete Seshar ruhig. »Manche überlebten die Entbehrungen nicht, die sie auf dem Weg hierher überstehen mußten. Andere wieder gingen nach kurzer Zeit, um den Rückweg zu suchen. Keiner von ihnen fand ihn. Und wieder andere wurden getötet, von mir oder denen, die vor mir die Verantwortung für Cearn innehatten.«
Seine Stimme war zu einem leisen Flüstern herabgesunken, während er sprach, und obwohl er in entspannter Haltung neben Skar saß und scheinbar desinteressiert mit seinem Becher spielte, lag auf
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