Enwor 4 - Der steinerne Wolf
noch die Macht Combats allein hatten ausgereicht, den unseligen Geist der Vergangenheit, den Vela heraufbeschworen hatte, zu bezwingen. Skar hatte es nicht gewußt, aber sie waren die ganze Zeit Verbündete gewesen, er und Combat, der Geist dieser Stadt, der Geist der Alten, der sich in diesem gewaltigen schwarzen Wolf manifestiert hatte. Aber sie hatten erst vereint sein müssen, um die Macht des Steines zu brechen. Er hatte nicht einmal etwas von dem Kampf gespürt; vielleicht ein blitzschnelles Gefühl, als griffe etwas in ihn hinein, bediente sich seiner Kraft; Kräfte, die ihm selbst nicht zur Verfügung standen.
Er erhob sich und sah ins Tal hinunter. Reiter kamen näher, Dutzende, wenn nicht Hunderte. An ihrer Spitze galoppierte eine breitschultrige, in mattes Schwarz gekleidete Gestalt.
»Kannst du aufstehen?« fragte Skar.
Vela nickte, aber er mußte ihr die Hand halten, damit sie wirklich auf die Füße kam und aus eigener Kraft stehen konnte. Ihr Blick folgte dem seinen.
»Keine Angst«, sagte er. »Sie werden dir nichts tun. Ich werde ihnen alles erklären.«
»Sie werden mir nichts tun?« fragte Vela ungläubig. »Und du?
Du wirst mich nicht... nicht töten?«
Skar schüttelte traurig den Kopf. Sie hatte nichts verstanden, gar nichts. Es gab keinen Grund, sie zu töten. Der Stein war nicht die Macht, sondern der Fluch Combats gewesen, nicht sein Schatz, sondern sein Gefangener, die Essenz alles Bösen, alles Schlechten, das es jemals in dieser Stadt gegeben hatte, und kein Mensch konnte die Kraft aufbringen, mit dem dunklen Erbe eines ganzen Volkes zu ringen und diesen Kampf zu gewinnen. Warum sollte er sie töten? Sie hatte alles verloren, woran sie jemals geglaubt hatte, und sie würde nie wieder dieselbe sein, als die er sie kennengelernt hatte, damals in Ikne. Vela, die Hexe, existierte nicht mehr. Sie war so tot wie dieser vermeintliche Stein der Macht, und die Frau neben ihm war nichts als ein blasses Abbild von ihr, geschlagen, besiegt, für immer zerbrochen.
»Nein«, sagte er nach einer Weile. »Ich werde dich nicht töten, Vela. Niemand wird das tun. Ich werde die Sumpfmänner bitten, dich zum Berg der Götter zu bringen. Der Rat der Satai wird am besten wissen, was mit dir geschehen soll. Und mit dem ... Kind«, fügte er nach einem unmerklichen Zögern hinzu.
Vela nickte, aber er glaubte nicht, daß sie seine Worte wirklich verstanden hatte. »Der Stein«, sagte sie plötzlich. »Was wirst du damit tun?«
»Nichts«, antwortete er. »Es gibt nichts mehr zu tun, Vela. Wir haben uns getäuscht, von Anfang an. Es war nie das, was wir alle darin gesehen haben. Der Schlüssel zur Macht der Alten ist mit ihnen untergegangen, und es ist gut so. Der Stein der Macht hat niemals existiert. Es war Combats Fluch, Vela. Aber er ist besiegt.« Er sah sie einen Moment ernst an, schloß die Hand um den Stein und atmete hörbar ein.
Irgendwo in seiner Seele war plötzlich ein leises, wohlvertrautes Flüstern, eine Stimme, die ihm sagte, daß er sich irrte, daß in dem Stein noch immer Macht war, und daß er sich ihrer bedienen konnte, wenn er es wollte. Und er spürte, daß sie recht hatte. Sowenig, wie es so etwas wie das Böse an sich wirklich gab, sowenig würde der Kampf dagegen jemals ganz gewonnen werden können. Der Stein lebte noch immer, irgendwie, hatte noch immer Macht, nicht mehr jene Art von Macht, die Vela in ihm gesehen hatte, aber eine andere, vielleicht stärkere.
Skar schloß die Hand um den Stein und drückte mit aller Gewalt zu. Als er sich wenige Augenblicke später umdrehte, war der Platz neben ihm leer. Der Wolf war verschwunden.
»Komm«, sagte er. Er ergriff Vela am Arm, drehte sich herum und ging Del und den anderen entgegen. Während sie den Hügel hinunterschritten, öffnete er die Faust.
Zwischen seinen Fingern rieselte feiner weißer Staub hervor und verwehte im Wind.
ENDE
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