Neugier und Übermut (German Edition)
Der Widerständler, der Tulpen aß
Jemand musste Hans Fritzsche verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde eine geheime Akte über ihn angelegt. Allerdings wurde kein Verfahren gegen ihn eingeleitet, und er sollte von diesem Vorgang eigentlich auch nichts erfahren.
Es wird der fünfzigste Geburtstag meines Vaters gewesen sein, im Januar 1965, als ich Hans Fritzsche kennenlernte. Er war mir bisher nie besonders aufgefallen. In der Presse war sein Name nur einmal genannt worden, als er, ein schlanker Mann, bei einem Abendessen in Schloss Ernich, der Residenz des französischen Botschafters François Seydoux de Clausonne, mit einem alten Biedermeiersessel zusammenbrach und zu Boden ging. Aber von diesem Abend an faszinierte er mich: In seinem Verhalten widersprach er so unerwartet der langweiligen Bürgerlichkeit.
Meine Eltern luden zu jeder Gelegenheit zu uns nach Hause ein. Feiern, bei denen jung und alt sich mischten und manch ein Alter, länger, als es sich ziemte, an manch einer Jungen hängenblieb, waren im Fasching oder zu runden Geburtstagen bei uns zu Hause üblich. Damals lebte ich schon längst in einer Studentenbude in Bonn, meine Eltern in einem engen Reihenhaus in Plittersdorf, einem Stadtteil von Bad Godesberg. Meist wurde bis morgens früh getrunken und gelacht, geredet und im Keller getanzt.
»Tulpen kann man essen«, sagte Hans Fritzsche zu den letzten Gästen, die dem Morgen entgegensumpften, und deutete auf einen Blumenstrauß auf dem Tisch vor dem Sofa. Er fügte hinzu: »Wetten?«
»Wetten!«, hielt jemand dagegen.
Fritzsche bat meine Mutter, eine bei allen beliebte fröhliche Rheinländerin, um Essig und Öl, um Salz und Pfeffer, einen Teller und Besteck. Blumen zu verzehren, das würde heute niemanden mehr erstaunen, legen doch Köche, die meinen, etwas Besonderes zu »kreieren«, irgendwelche exotischen Blüten »an das Gericht« und fügen hinzu, man könne sie auch verspeisen. Obwohl sie meist nach nichts schmecken. Aber 1965 aßen wir sonntags noch Braten mit Soße und Blumenkohl, wonach dann die ganze Wohnung roch.
Natürlich gewann Fritzsche die Wette.
Wahrscheinlich habe ich deshalb spontan zugesagt, als er mich kurz darauf zu einem kleinen formellen Abendessen zu sich nach Hause einlud. Freitagabend acht Uhr mit Krawatte im Anzug. Wir aßen keine Tulpen. Aber ich ging, anders als die übrigen Gäste, erst zwei Tage später, am Sonntag irgendwann ganz früh. Hans Fritzsche konnte spannend aus seinem Leben erzählen, und das nicht nur vom Widerstand gegen Hitler, an dem er aktiv teilgenommen hatte. Zeit meines Lebens würden mich Personen interessieren, die etwas erlebt hatten und von denen ich lernen konnte. Und sei es nebenbei über guten deutschen Weißwein, den Fritzsche ausschenkte.
Nur von der geheimen Akte wusste er nichts. Noch nichts.
Hans Fritzsche kümmerte sich in den sechziger Jahren als hoher Ministerialbeamter im Bundesfamilienministerium um den deutsch-französischen Jugendaustausch.
Im Krieg eroberte er mit seiner Kompanie als Erster die Innenstadt von Verdun, wurde verwundet und erhielt das EK I. Sein Quartier lag inmitten eines malerischen Dorfes in der Landschaft der Maas. Und, so erzählt er, eine schwere deutsche Granate hatte das Dach des Häuschens seiner alten französischen Quartierwirtin durchschlagen. Sie lag als Blindgänger mitten unter ihren Ziegen und Hühnern, die auf dem Dachboden hausten.
»Ich trug den Blindgänger vorsichtig die Hühnerleiter hinunter«, so Fritzsche, »ging damit sanft und langsam die kopfsteingepflasterte Straße hinab und legte das dicke Ding sorgfältig auf eine Wiese, wo es später vom Waffenmeister entschärft wurde. Das sprach sich unter den französischen Bauern im Dorfe schnell herum.«
Alle Bauern kamen dann auch, als Fritzsche zur Verkündung des Waffenstillstands seine Kompanie auf dem Dorfplatz antreten ließ und rief: »Vive le couple Franco-Allemand!« Fritzsche strahlte jetzt noch in Erinnerung daran: »Aus der Versammlung der bäuerlichen Familien lief eine Dorfschöne heraus, fiel mir um den Hals und küsste mich.«
Bald erzählte ich ihm von meinen ersten deutsch-französischen Erlebnissen. Wir waren im Frühjahr 1956 nach Paris gezogen. Mein Vater, Erwin Wickert, war politischer Referent an der deutschen NATO-Vertretung geworden. Und das, obwohl er 1939 zum ersten Rundfunkattaché des Auswärtigen Amtes in Shanghai ernannt worden war, wo er ein deutsches Rundfunkprogramm
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