Enwor 9 - Das vergessene Heer
wirkte mit einem Male grau. Erschrocken sah Skar zu Anschi hinüber und stellte fest, daß auch sie sich verändert hatte, ehe er an sich selbst hinabblickte und die gleiche, beunruhigende Feststellung machte: Es gab keine Farben in diesem Raum, nur Schwarz und Weiß und alle nur denkbaren Abstufungen dazwischen.
Und das pulsierende Purpurrot des Altars.
Gegen seinen Willen suchte sein Blick den metallenen Zylinder.
Er war ihm jetzt nahe genug, um zu erkennen, daß er hohl war. Hohl, aber nicht leer. Das düstere Purpur erfüllte ihn wie pulsierendes flüssiges Licht, und auf seinem Grund lag etwas, was auf den ersten Blick wie ein gewaltiger blutroter Edelstein aussah, seine Form aber unablässig zu verändern schien, so daß es Skar unmöglich war, es
wirklich
zu erkennen.
Es war keine Maschine, aber es war auch nichts Lebendes, sondern irgend etwas dazwischen, ein dreifach faustgroßer Ball aus Kristall oder Licht oder beidem, in dem Bewegung war, ein Huschen wie von einem kleinen mißgestalteten Körper, der seine Form ebenso unablässig veränderte wie der Kristall. An der Bewegung war etwas Drängendes, Forderndes. Skar mußte plötzlich an ein Ei denken, das Ei eines Drachen, in dem eine unbeschreibliche Brut darauf wartete hervorzubrechen. Es war ihm unmöglich, den Blutkristall länger zu betrachten. Sein Anblick begann ihm körperlichen Schmerz zu bereiten.
»Spürst du es?« fragte Ennart. Seine Worte streiften Skar nur; er erriet sie mehr, als er sie verstand. »Seine Macht. Die ungeheure
Kraft,
die er birgt?« Er kam näher, blieb aber nach ein paar Schritten abrupt wieder stehen, als hindere ihn eine unsichtbare Macht daran, weiter zu gehen.
»Die Macht unserer Vorfahren«, führ er fort. »Es ist die Kraft der Schöpfung selbst, Skar. Nichts wird uns mehr aufhalten, wenn wir erst gelernt haben, sie wirklich zu nutzen. Wir werden eine neue Welt errichten, mit der Macht von Göttern!«
»Du bist… wahnsinnig«, flüsterte Skar. »Du wirst die Welt zerstören, wenn du das hier auch nur anrührst!«
»Vielleicht«, antwortete Ennart. »Aber wir werden sie neu und hundertmal besser aufbauen! Hilf uns! Hilf uns, Skar, diese Kraft zu verstehen, und wir werden eine Welt erschaffen, in der unsere beiden Völker überleben können! Hilf uns!«
Und plötzlich war die gleiche Stimme auch in ihm, dasselbe, suggestive Flüstern.
Hilf uns. Hilf uns, Satai! Du hast die Macht dazu! Du bist der einzige, der es kann! Du kannst alles beenden. Den Krieg. Den Haß. Sogar den Tod!
Er wußte nicht, ob es Ennart war, der seine Gedanken zu beeinflussen versuchte, oder die Stimme dieses
Dings,
aber er spürte, wie sein Widerstand schmolz. Die Versuchung war groß. Unbeschreiblich groß. Er konnte es tun. Er hatte die Macht dazu.
Er konnte ein Gott sein, wenn er wollte. Nein, nicht
ein
Gott.
Er konnte
Gott
sein, Herrscher über Leben und Tod, Herr einer ganzen Welt, vielleicht des Universums. Und er konnte diese Macht nutzen, nicht um Böses zu tun, nicht um zu herrschen und zu erobern, sondern um alles Leid zu besiegen, den Krieg, den Hunger und die Krankheiten, die Kälte und den Zorn, den Tod und das Alter, den…
Hinter Anschi bewegte sich ein Schatten, und Skar erstarrte.
Der Umriß des riesigen steinernen
Daij-Djan
schien zu flakkern, wie das Bild einer
Laterna magica,
vor deren Lichtquelle eine Motte flatterte, teilte sich, verschmolz wieder zu einer Einheit, teilte sich erneut — und dann gab es zwei, die riesige, steinerne Statue, und das Geschöpf, nach derem Vorbild sie erschaffen worden war, der
Daij-Djan
selbst, sein Dunkler Bruder, der zurückgekehrt war und mit einem lautlosen Schritt von seinem Sockel heruntertrat, wie ein Körper, der sich aus seinem eigenen Schatten löste.
Lautlos, unsichtbar für Anschi und den Ssirhaa, trat er hinter Ennart, starrte Skar aus seinem schrecklichen Nicht-Gesicht heraus an und hob den Arm, die Klaue zu dem einzigen Zweck gekrümmt, zu dem sie geschaffen war.
Soll ich ihn für dich töten, Bruder?
wisperte seine Stimme in Skars Gedanken; leise, fast verloren unter dem Flüstern des Versuchers, und doch auf sanfte Weise ebenso mächtig wie sie, vielleicht mächtiger, denn sie war ein Teil von Skar selbst.
Es ist nicht schade um ihn. Er ist ein Narr, der nicht einmal ahnt, mit welchen Mächten er sich eingelassen hat. Und er ist nicht der, der zu sein er vorgibt.
Ich weiß,
antwortete Skar, auf die gleiche, lautlose Art, die selbst Ennart verborgen blieb.
Soll
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