Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
ePub: Ashes, Ashes

ePub: Ashes, Ashes

Titel: ePub: Ashes, Ashes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Treggiari
Vom Netzwerk:
1. KAPITEL

    Lucy beugte sich über den Kadaver. Sie spürte ein leises hysterisches Lachen in ihrer Kehle aufsteigen, doch als sie die tote Schildkröte, die ausgestreckt auf der groben Holzplanke lag, genauer betrachtete, erstarb dieser Impuls. Der Geruch des frischen Blutes war unangenehm. Sie hätte das Tier besser im Freien schlachten sollen, am Strand. Doch allmählich war es spät geworden und Lucy hatte sich schutzlos gefühlt. Dies war die erste Schildkröte, die sie je erlegt hatte, und sie hatte nicht gewusst, wie sehr sie das runzelige Gesicht mit den pergamentartigen Augenlidern an einen alten Menschen erinnern würde.
    Sie setzte das Messer an der schmalsten Stelle des grauen, faltigen Halses an und schnitt hinein, den Blick starr nach vorn gerichtet. Die Klinge blieb stecken. Lucy versuchte die Gedanken an Sehnen und Knochen, die ihr Hirn herausschreien wollte, zu ersticken und drückte fester zu. Das Fleisch hielt stand – bis es mit einem Mal nachgab. Mit Wucht fuhr das Messer in die harte Holzunterlage, und der Kopf der Schildkröte rollte davon und schlug mit einem dumpfen Laut auf dem Boden auf.
    Lucys Magen krampfte sich zusammen. Zum Glück war er leer. Sie legte das Messer ab, schob den geflochtenen Tarnschild vor dem Zugang ihres Unterschlupfs beiseite und ließ frische Luft herein, um den Gestank aus der Nase zu kriegen.
    Sie schloss die Augen, atmete tief durch und ging auf die Knie. Sie konnte den heraufziehenden Regen riechen. Ob sie noch ein Jahr überleben würde? Zwei Tage Dauerregen hatten das Erdreich vor ihrem Camp in eine Ansammlung schlammiger Pfützen verwandelt, und da ihr Unterschlupf in einer Senke lag, begann sich unmittelbar vor ihrem Eingang bereits ein schmaler Wassergraben zu bilden.
    Vor fünf Jahren, als Lucy gerade elf Jahre alt gewesen war, hatte es die ersten Überflutungen gegeben. Schmelzende Polkappen, ein steigender Meeresspiegel, verstärkte Niederschläge; ein ständiges Wüten von Hurrikanen, Tornados und Erdbeben schwächte das Land – all das, wovor die Wissenschaftler immer gewarnt hatten, geschah. Und das Bild der Erde, wie es in Lucys Geografiebüchern dargestellt war, hatte sich mit beängstigender Geschwindigkeit gewandelt. Die Kontinente hatten ihre Form verändert, Küstenlinien ihren Verlauf. San Francisco, Venedig, Thailand, Spanien, Lucys geliebtes Coney Island, Japan – alles war in den Fluten versunken. Australien war wie ein Eiswürfel in einem heißen Getränk geschmolzen und nur noch halb so groß, wie es einmal gewesen war. Und New York City bestand aus nicht mehr als einer Gruppe von sechs oder sieben verstreut liegenden Inseln, die nur durch ein paar Brücken mit dem Festland verbunden waren; durch die George-Washington-Brücke, die Robert-F.-Kennedy-Brücke und die Williamsburg-Brücke. Manche dieser Brücken waren nur während der Langen Dürre passierbar.
    Kleine, rasch dahinschießende Kanäle folgten dem Verlauf früherer Straßen. Die Lexington Avenue, die Fifth Avenue und die 42nd Street – sie standen jetzt allesamt unter Wasser. Die Menschen hatten sich zusammengeschlossen und ihr Leben neu organisiert. Sie hatten Hängebrücken errichtet, die stabil genug waren, dass ein Dutzend Leute und dazu ein paar Fahrräder die tiefen Kanäle überqueren konnten, die sich nun kreuz und quer wie ein Raster über das zogen, was einst Manhattan gewesen war. Tausende Sandsäcke schützten die Deiche an den kleineren Wasserläufen, und aus den Trümmern und dem Schutt der Hochhäuser hatte man einen mächtigen Wall errichtet – ein Versuch, die Grenzen von Harlem und Washington Heights vor dem Meer zu schützen, das sich immer weiter ins Landesinnere fraß. Hütten aus billigem Sperrholz, auf Stelzen gebaut, bestimmten nun das Bild der Stadt. Man hatte breite Abflussrinnen in den Boden gegraben und das Autofahren in der ganzen Stadt verboten – abgesehen von den Randbezirken und den wenigen Straßen, die die Erdbeben überstanden hatten.
    Im Spaß nannten die Leute ihre Stadt »New Venice« – Neu Venedig – und schienen sich mit den Umständen zu arrangieren. Lucy, die im sicheren Norden von New Jersey aufgewachsen war, meilenweit entfernt von der Küste, hatte sich weit weg von jeder Gefahr gefühlt und war nach wie vor mit dem Zug in die Stadt gefahren und hatte die Vintage-Stores nach coolen Klamotten durchstöbert. Es regnete oft, wasmanche Wohnbezirke für einige Monate im Jahr unzugänglich machte, und die Sommer waren brütender

Weitere Kostenlose Bücher