ePub: Juniper Berry
vermischt sich mit meinen eigenen Gedanken. Manchmal weiß ich nicht, welche Gedanken von mir sind und welche von ihm. Ist das nicht merkwürdig?« Giles dachte einen Moment nach. »Aber er weiß genau, was ich denke und fühle. Er hat mir gesagt, dass du herkommen würdest. Er will nicht, dass ich weiter mit dir rede. Er sagt, du bist nur neidisch.«
»Das … das stimmt nicht«, murmelte Juniper.
»Ich fühle mich stärker, das ist alles. Genau wie Skeksyl gesagt hat. Er hat nicht gelogen.«
Nein, das hatte er nicht. Er hatte auch ihre Eltern nicht angelogen. Sie wollten ihren Traum leben, und er hatte ihn ihnen in einem Ballon überreicht.
Giles’ Mitschüler begannen nach ihm zu rufen. »Ich … ich muss los«, sagte er und wandte sich unvermittelt zum Gehen.
»Giles!«, rief Juniper und er hielt inne. »Ist es … ist es so, wie du es dir vorgestellt hast?«
Er drehte sich noch einmal um und sah ihr direkt in die Augen. »Es ist unglaublich, June. Es verändert alles.«
Das war genau die Antwort, die sie gleichzeitig erhofft und gefürchtet hatte.
Juniper kehrte in den nächsten drei Tagen sechsmal zum Baum zurück. Jeder Besuch verwirrte sie ein bisschen mehr. Etwas sagte ihr, sie solle in die Unterwelt zurückkehren und ihren Handel mit Skeksyl machen. Und plötzlich war es nicht mehr die Welt, auf die sie wütend war, sondern sie war wütend auf sich selbst. Warum musste sie so sein, wie sie war? Nirgendwo stand geschrieben, dass Juniper Berry ein trauriges, einsames Mädchen zu sein hatte, das von ihren Eltern vergessen wurde. Sie musste nicht abgeschottet von der Außenwelt leben. Sie konnte etwas dagegen tun.
Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr Sinn ergab es. Wenn ihre Eltern sie nicht mehr brauchten, dann musste sie eben jemand werden, den sie brauchten. Wenn sie sie kaum noch beachteten, musste sie jemand sein, den sie nicht länger ignorieren konnten. Jemand, den sie liebenwürden. Jemand, den alle lieben würden. Dann würde sie nie wieder einsam sein.
Sie ging noch einmal zum Baum und legte die Hand auf den Stamm. Sie senkte den Kopf und schloss die Augen. »Ich habe Angst«, flüsterte sie. »Ich weiß nicht mehr, was richtig ist.«
Neptun flatterte von seinem Ast herunter und setzte sich direkt über sie. Er klopfte mit dem Schnabel gegen den Stamm.
Ganz allmählich schob sich Junipers Hand zu der Stelle mit dem Zeichen. »Manchmal fühle ich mich, als würde die ganze Welt etwas wissen, das ich nicht weiß. Ich will doch nur irgendwo dazugehören. Ich will Eltern haben, denen ich nicht egal bin.«
Noch einmal pickte Neptun gegen den Baumstamm, die schwarzen Augen auf Juniper gerichtet.
Das Zeichen unter ihren Fingern schien zu glühen, es wollte unbedingt gedrückt werden, und Junipers Körper wurde von dieser Wärme erfüllt. Es fühlte sich so tröstlich an. Es machte den nächsten Schritt leicht.
Sie drückte auf die Stelle.
Noch einmal öffnete sich hinter dem Baum der Durchgang und lockte sie in die Tiefe. Neptun spielte wieder den Führer. Er flog an ihr vorbei, hinein in die Schwärze der Unterwelt.
Junipers Blick folgte dem Raben. Regungslos starrte sie in die Dunkelheit, in der er verschwunden war.
Warum fiel es ihr so schwer, den ersten Schritt zu tun?Am Ende der Treppe wartete ein neues Leben auf sie. Wieso zögerte sie?
Eine Minute später kam Neptun zurück, warf ihr einen auffordernden Blick zu und flog wieder nach unten. Sein Krächzen verklang nicht, hallte nicht wider, sondern erstarb.
Statt seines leiser werdenden Krächzens stieg nun eine Stimme aus der Dunkelheit zu ihr empor, Skeksyls Stimme. » Juniper! « Ein lockendes Echo aus der Tiefe. Seine Stimme zog und zerrte an ihr. » Juniper! «
Ihr Fuß berührte die erste Stufe. Sie war auf dem Weg.
» Juniper …«
Der zweite Schritt.
»Juniper!«
Eine Stimme ertönte hinter ihr. Sie fuhr herum und stieg die beiden Stufen schnell wieder hinauf, gerade noch rechtzeitig.
»Hallo, Juniper!« Dimitri kam mit Betsy über seiner breiten Schulter auf sie zu. »Wo ist Giles?« Er ließ die Axt in ihren gewohnten Baumstumpf sausen, wo sie schräg stecken blieb wie eine Sonnenuhr des Schicksals.
Juniper wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie stellte sich so hin, dass Dimitri die Öffnung hinter ihr nicht sehen konnte.
Dimitri lächelte. »Er ist nicht da, was? Wartest du auf ihn?«
»Nein … Ich … Ich hab mich nur gelangweilt.« Sie schaute zu den Stufen und bemerkte überrascht, dass sie
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