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Equinox

Equinox

Titel: Equinox Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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Unterlippe, und als sie sich zu mir drehte, war der Blick ihrer unbebrillten, blassen Augen ernst und - voller Angst.
    Ich begann mich intensiv zu fragen, ob mit mir etwas nicht in Ordnung war. Entweder bei dem Zusammentreffen gestern oder bei diesem Gespräch heute musste es sich um eine Halluzination handeln. Oder um eine Verwechslung. Anders war der eklatante Unterschied zwischen der Frau gestern und der Frau heute nicht zu erklären. Wie von alleine, wie um mich zu vergewissern wanderte meine Hand zu dem Pflaster an meinem Nasenflügel. Es war noch da.
    »Ich bin Croupier«, las Carla meine Gedanken, stellte zwei große Tassen, fast schon Schüsseln, zwischen uns und nahm grazil auf dem Stuhl mir gegenüber Platz. »Wenn ich arbeite, schlüpfe ich in eine antrainierte Rolle. Manchmal«, murmelte sie bedauernd und strich mir sachte mit dem Finger über die Nasenspitze, »geht es dann ein bisschen mit mir durch. Doch wir Croupiers müssen so wirken: überlegen, kühl und unnahbar. Das heißt nicht«, fuhr sie fort und senkte den Blick, rührte und rührte in ihrem Milchkaffee, »dass ich auch so bin.« Und sie sah wieder auf und hunderttausend Volt krochen mir gemächlich durch die Nervenstränge.
    »Sag mir«, bat sie, »hast du schon einen Hinweis, wer es getan haben könnte? Und warum? Wird das jetzt so weitergehen? Das ist alles so unerklärlich. Ich habe von Anfang an nicht an diese Selbstmordgeschichte von Wassilij geglaubt. Aber wer sollte ihn umgebracht haben, und Fjodr? Gerade Fjodr war doch so … nett.«
    Nett, ja. Carla und Fjodr. Fjodr und Carla. Die Geigen, wenn man so will, verstummten ziemlich abrupt.
    »Wo seid ihr beiden eigentlich hin«, fragte ich kühl, »nach dem Karaoke, Fjodr und du?«
    »Ach«, sie lächelte, und im Hintergrund nahmen die Streicher ihre Arbeit wieder auf, »Fjodr und ich. Du bist leicht zu ärgern, kann das sein?« Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee und leckte sich anschließend langsam den Milchschaum von der Oberlippe, während sie mich ansah. Sehr langsam. Dazu fiel ihr Morgenmantel ein Stück weit auf und der Reißverschluss meiner Uniformhose knirschte, im Bemühen um Zusammenhalt, hörbar mit den Zähnen.
    »Fjodr hat mich nur zur Arbeit geleitet«, erklärte sie. »Zur Spätschicht. Nachdem du mich den Abend über ja so ziemlich ignoriert hattest.«
    Ich schluckte und der Verdacht des Halluzinierens überkam mich erneut. Die ganze Szene hatte die gleiche hypnotisch-unwirkliche und doch zur gleichen Zeit so fantastisch real erscheinende Qualität einer tiefen Opiat-Trance.
    »Kristof«, flüsterte Carla, und ihre Augen blickten groß und blass und bittend über den Rand ihrer Kaffeeschüssel hinweg, »sag mir eins, und bitte sei ehrlich: Du hattest doch nichts damit zu tun, oder? Mit Fjodrs Tod?«
     
    Zwischen meinen Ohren dröhnte ein großer Gongggggg, und ich wankte durch die engen Gänge des Personaltrakts wie jemand, der noch nicht so recht begriffen hat, dass er einen Schlag über den Schädel bekommen hat und jeden Augenblick zu Boden gehen wird. Ich glaube, ich lächelte ein Lächeln dazu, das es mit Fug und Recht verdiente, unter »schwachsinnig« abgeheftet zu werden.
    Der Sieger im Karaoke war vertraglich an eine äußerst resolute Gattin gebunden. Dieser Umstand hatte ihn zum Verzicht auf seinen Preis bewogen. Und so würden halt Carla und ich … bei nächster Gelegenheit … zu zweit… im >Printemps< …
    Elena erschien an meiner Seite und sprach eine Weile eindringlich auf mich ein, kam jedoch nicht an gegen das Vibrato des Gongs zwischen meinen Ohren, bis Antonov hinter einer Ecke auftauchte, mich am Arm packte und dem Gong abrupt das Schwingen austrieb, doch da war es dann zu spät.
    »Also hier hängst du herum«, knurrte Antonov, duzte mich wieder und zog mich mit sich. Moment mal, dachte ich.
    »Du kannst ja später mal im Duty-free vorbeikommen«, rief Elena mir hinterher, und ich drehte mich noch mal zu ihr um, und sie sah klein aus und irgendwie verloren, wie sie so dastand.
     
    »Wir müssen reden«, raunte Antonov und zerrte mich weiter den Gang hinunter.
    »Ich wüsste nicht, über was«, sagte ich, ein wenig bockig, hatte ich doch gerade erst sämtliche Insignien eines Mitglieds seiner Abteilung bei der Materialausgabe zurückgelassen.
    »Pass auf«, raunte er weiter, zog mich um eine Ecke und presste mich rücklings an eine Wand. Ich wollte mich gerade aus seinem Griff befreien und ihm ein für alle Mal klar machen, was ich von

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