Er ist wieder da
unangenehm, dass er mir diese kleine Schwäche ansehen konnte, und es war auch wirklich eine kleine Schwäche gewesen, ein Aufwallen wohliger Gefühle, wie ich sie lange nicht mehr gespürt hatte. Ich war am Morgen gegen halb zwölf Uhr frisch erwacht, ich hatte eine Kleinigkeit zu mir genommen und dann in der Tat beschlossen, die Zeitungen zu lesen, das hatte der Zeitungskrämer alles ganz richtig erraten. Vor zwei Tagen waren auch die Anzüge geliefert worden, sodass ich in etwas weniger Offizielles hatte schlüpfen können. Es war ein einfacher dunkler Anzug im klassischen Schnitt, ich hatte dazu den dunklen Hut gewählt, ich war losmarschiert, und sofort zog ich weitaus weniger Blicke auf mich als sonst. Es war ein sonniger Tag, strahlend klar und erwartbar frisch temperiert, ich fühlte mich für den Moment aller Pflichten ledig und schritt tüchtig aus. Es war so friedlich, fast gewöhnlich, und da ich vorzugsweise Grünzüge und kleine Parks nutzte, gab es auch nicht so vieles, was meine Aufmerksamkeit erforderte, außer einer verrückten Frau, die sich bückte, sichtlich bemüht, im etwas zu lange ungemähten Grase die Exkremente eines Spaniels zu entdecken und aufzulesen. Für einen Moment dachte ich, dass auch eine Epidemie die Ursache für diese Irren sein konnte, allerdings schien der Vorgang niemanden zu beunruhigen. Im Gegenteil, wie ich kurz darauf bemerkte, hatte man hier und da fürsorglich eine Art Automat aufgestellt, bei der solche verrückten Frauen kleine Tüten herausziehen konnten. Ich kam vorerst zu dem Schlusse, dass es sich um Frauen handeln musste, denen der innige Kinderwunsch unerfüllt geblieben war, eine derartige Hysterieform, wie sie diese übersteigerte Fürsorge für allerlei Hunde darstellte, war da natürlich zwangsläufig. Und ich musste zugeben, diesen armen Wesen dann Tüten zu geben, war eine erstaunlich pragmatische Lösung. Langfristig galt es natürlich, die Frauen wieder ihrer eigentlichen Aufgabe zuzuführen, aber wahrscheinlich war wieder irgendeine Partei dagegen gewesen. Man kennt das ja.
Unter solchen weniger anstrengenden Überlegungen war ich ganz in Gedanken zum Zeitungskrämer spaziert, unbehelligt, kaum bis nicht erkannt, die Situation kam mir merkwürdig vertraut vor, aber erst die Worte des Zeitungskrämers hatten mir deutlich gemacht, woran es lag. Es war jene zauberhafte Stimmung, wie ich sie in meinen Anfängen in München nur zu oft erlebt hatte – nach meiner Entlassung aus der Festungshaft, ich war in München leidlich bekannt, noch war ich nur ein kleiner Parteivorsitzender, ein Redner, der dem Volke ins Herz schaute, und es waren die kleinen und kleinsten Leute, die mir in bewegender Weise ihre Zuneigung zuteil werden ließen. Ich ging über den Viktualienmarkt, die ärmsten Marktweiblein winkten mich freundlich zu sich, gaben mir einmal zwei Eier, ein Pfund Äpfel, man kam nach Hause wie der reinste Fourageur, wo einen die Vermieterin strahlend begrüßte, und die ehrliche Freude leuchtete ihnen so gleißend hell aus ihren Gesichtern wie in jenem Augenblicke dem Zeitungshändler. Und dieses Gefühl von damals, es kam so schnell über mich, noch bevor ich es selbst begreifen konnte, so überwältigend, dass ich rasch in eine andere Richtung blickte. Aber der Zeitungskrämer hatte natürlich aufgrund seiner langen Berufserfahrung eine beeindruckende Menschenkenntnis erworben, wie sie sonst nur manchen Droschkenfahrern zu eigen ist.
Ich hustete verlegen und sagte: »Keinen Kaffee, bitte. Eine Tasse Tee wäre schön. Oder ein Glas Wasser.«
»Kein Problem, kein Problem«, sagte er und füllte Wasser in einen Wasserkocher, ähnlich wie ich ihn in meinem Hotelzimmer hatte. »Ich hab die Zeitungen neben dem Sessel aufgehoben. Es sind nicht sehr viele, ich denke, das Internet ist da wohl die bessere Adresse.«
»Ja, dieses Internetz«, sagte ich zustimmend und setzte mich. »Eine sehr gute Einrichtung. Ich glaube auch nicht, dass mein Erfolg vom Wohlwollen der Zeitungen abhängig sein wird.«
»Ich will Ihnen ja nicht den Spaß verderben«, sagte der Zeitungskrämer, während er Teebeutel aus einem Fach holte, »aber Sie müssen keine Angst haben … Die, die Sie gesehen haben, mögen Sie.«
»Ich habe keine Angst«, stellte ich klar, »was gilt schon die Meinung eines Kritikers?«
»Na ja …«
»Nichts«, sagte ich, »nichts! Sie hat in den Dreißigern nichts gezählt, sie zählt jetzt nichts. Diese Kritiker erzählen den Leuten immer nur, was
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