Er sieht dich wenn du schläfst
klingelte es an der Haustür Sturm, so dass beide zusammenfuhren. Billy ging öffnen.
Ein strahlender Marschall Frank Smith stand vor ihm. Seine
Stimme dröhnte: »Nehmen Sie nur mit, was Sie brauchen. Sie
fliegen mit der Maschine um 12.40 Uhr nach New York, und
wenn Sie die kriegen wollen, dürfen Sie keine Zeit verlieren.«
F
ür gewöhnlich war Nors Restaurant am Heiligabend voller Gäste zum Mittagessen gewesen. Manche hatten noch letzte Besorgungen erledigt und waren auf einen
kleinen Happen vorbeigekommen. Andere, die ihre Besorgungen
besser organisiert hatten, hatten ein stilles Mittagessen eingenommen, ehe die Feiern in der Kirche und in der Familie begannen.
Heute ist es hier einfach unheimlich, dachte Dennis, als er von
seiner Bar aus den Raum überblickte. Er schüttelte den Kopf.
Wenigstens hatte Nor eingesehen, dass es sinnlos wäre, auch am
ersten Feiertag zu öffnen.
»Du wirst Recht haben, Dennis«, hatte sie zugegeben. »Nur
zehn Reservierungen! Die Leute würden lieber in ein volleres
Lokal gehen.«
Wir sind ziemlich am Ende, dachte Dennis, als er die Bestellung für ein einziges Bier entgegennahm.
Just in diesem Augenblick klingelte das Telefon. Er nahm den
Hörer ab.
»Dennis!« Es war Nors Stimme, vergnügt und energiegeladen. »Wir sind am Flughafen und kommen nach Hause. Wir
sind wieder frei. Die Badgett-Brüder sind weg und ein für alle
Mal hinter Gittern«, jubelte sie. »Besorge einen Geburtstagskuchen für Marissa heute Abend, und rufe unsere üblichen Weihnachtsgäste an. Sag ihnen, Nors Restaurant hat am Weihnachtsabend geöffnet, und das Menü geht aufs Haus. Aber sieh zu,
dass Marissa nichts erfährt! Wir wollen sie überraschen.«
V
on dem Augenblick, als sie am
Heiligabend die Augen aufschlug und vor sich hin flüsterte:
»Heute werde ich acht«, begann Marissa den Glauben zu verlieren, dass es Sterling gelänge, Daddy und NorNor nach Hause zu
bringen. Sie war sicher gewesen, dass sie da wären, wenn sie
aufwachte, doch jetzt wusste sie, dass es so ablaufen würde wie
immer.
Sie hatte sich eingeredet, sie wären zu Ostern zurück, aber sie
kamen nicht. Dann hatte sie geglaubt, dass sie zu den Sommerferien wieder da wären… Dann zum Schulanfang im September… Dann zum Erntedankfest…
So wird es heute auch wieder sein, dachte sie, als sie aufstand
und ihren Morgenmantel anzog. Tränen wollten ihr über die
Wangen laufen, doch sie hielt sie mit den Händen zurück. Sie
versuchte zu lächeln und ging hinunter.
Ihre Mutter, Roy und die Zwillinge saßen bereits am Küchentisch. Sie sangen »Happy Birthday«, als sie Marissa sahen. Neben ihrer Müslischale lagen Geschenke: eine neue Uhr; Bücher
und CDs von Mommy, Roy und den Zwillingen; ein Pullover
von Großmutter. Dann öffnete sie die beiden letzten Schachteln:
Schlittschuhe von Daddy und ein neues Eislauftrikot von NorNor.
Jetzt war sie absolut sicher, dass sie heute nicht nach Hause
kommen würden. Wenn doch, würden sie dann nicht so lange warten, bis sie ihr die Geschenke persönlich überreichen könnten?
Nach dem Frühstück trug Marissa ihre Geschenke nach oben.
In ihrem Zimmer zog sie den Stuhl vom Schreibtisch an den
Schrank und stieg hinauf. Sie legte die Schachteln mit den neuen
Schlittschuhen und dem Eislauftrikot auf das obere Regalbrett.
Dann schob sie die Geschenke mit den Fingerspitzen so weit
wie möglich nach hinten, bis sie außer Sichtweite waren.
Sie wollte die Sachen nie wieder ansehen.
Um elf Uhr war sie im Wohnzimmer und las in einem ihrer
neuen Bücher, als das Telefon klingelte. Obwohl ihr das Herz
stehen blieb, als sie Mommy sagen hörte: »Hallo, Billy«, schaute sie nicht auf.
Doch dann kam Mommy zu ihr gelaufen. Sie ließ ihr keine
Chance zu sagen »Ich will nicht mit Daddy sprechen«, sondern
hielt ihr gleich den Hörer ans Ohr, aus dem Daddy ihr zurief:
»Rissa, willst du heute Abend zum Geburtstagsessen zu Nor
kommen? Wir sind auf dem Heimweg!«
Marissa flüsterte: »Oh, Daddy.« Sie platzte schier vor Glück
und konnte nichts mehr sagen. Dann spürte sie, wie jemand ihr
den Kopf tätschelte. Sie blickte hoch, und da stand er – ihr
Freund, der den komischen Hut trug und kein richtiger Engel
war. Er lächelte ihr zu.
»Leb wohl, Marissa«, sagte er, dann war er verschwunden.
Benommen ging Marissa die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf,
schloss die Tür, zog ihren Stuhl ans Regal und stellte sich auf
Zehenspitzen darauf, um die Geschenke wieder hervorzuholen,
die sie
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