Er war ein Mann Gottes
schwer krank war und mir die Geschichte vom Stücklein Himmel wohl zur Vorbereitung auf ihren Tod erzählt hatte. Sie wusste ja, wie lieb ich sie hatte, und bestimmt wollte sie mir helfen, damit ich nach ihrem Tod nicht ganz so traurig sein würde. Tatsächlich war die Vorstellung, wie die Seele meiner Tante auf unseren Gebeten zum Himmel getragen wurde, später ein großer Trost für mich.
Solange meine Tante bei uns im Haus lebte, beteten wir jeden Tag den Rosenkranz und hörte ich eine ihrer moralischen Märchenerzählungen. Noch heute wage ich bei Beerdigungen kaum, meiner Trauer freien Lauf zu lassen, weil ich unweigerlich an das Märchen vom »Tränenkrüglein« denken muss. Es handelt von einer verzweifelten Mutter, die so bitterlich und untröstlich um ihr verstorbenes Kind weint, dass dieses eines Nachts in seinem von Tränen durchnässten Totenhemd-chen aus dem Grab aufsteigt und an ihr Bett tritt. Flehentlich bittet es sie, nicht mehr zu weinen, damit es endlich trocken in seinem Sarg ruhen und in die Ewigkeit schlafen könne.
Die Vorstellung, dass meine Tränen die ewige Ruhe eines Toten stören könnten, ist mir seitdem schrecklich. Dabei erzählte meine Tante mir dieses Märchen wohl in derselben guten Absicht, wie sie in meiner Phantasie die Vision von ihrer gen Himmel getragenen Seele erzeugt hatte. Dass man in unterdrückten Tränen ertrinken kann, hat sie dabei sicher nicht bedacht.
Sünde und Solidarität
Meine Tante war für mich immer eine Oase der Liebe, die sich mir bot, wenn ich nachts nicht allein in meinem Bett bleiben oder mal wieder nicht essen wollte, was meine Mutter auf den Tisch gebracht hatte. Für meine Eltern dagegen war das Zusammenleben mir ihr oftmals schwierig.
Ich erinnere mich an Sonntage zu Lebzeiten meiner Tante, an denen Mutter und Vater einfach mal faulenzen und ausschlafen wollten, anstatt in die Kirche zu gehen. Zu diesem Zweck mussten sie sich in den eigenen vier Wänden mucksmäuschenstill verhalten, damit die alte Dame nur ja nichts merkte, ehe sie selbst das Haus zum Kirchgang verlassen hatte.
Berichtete diese später beim gemeinsamen Mittagstisch ganz verwundert, dass sie die beiden ja gar nicht in der Kirche gesehen habe, sagten meine Eltern nur, dass man bei so vielen Menschen schon mal jemanden übersehen könne. Außerdem wisse die Tante doch, dass meine Mutter wegen des Sonntagsessens immer auf dem schnellsten Weg an den Herd zurückeile und sich deshalb gern zur Seitentür hinausschleiche.
Niemals hätten die Eltern vor der streng katholischen Seniorin zugegeben, ihre Sonntagspflicht freiwillig versäumt und lieber zu Hause geblieben als zur heiligen Messe gegangen zu sein.
Anfangs litt ich sehr unter dieser Sünde meiner Eltern. Ich fühlte mich zwischen meinen Eltern, meiner Tante und Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist wie zerrissen. Das Hochamt zu schwänzen war eine Sünde. Die Tante zu belügen war ebenfalls eine Sünde. Auch meine Eltern zu verraten war Sünde. Für wen immer ich mich entscheiden würde, ich konnte es niemandem recht machen. Also schwieg ich. Dadurch wurde ich zur Komplizin meiner Eltern und beging ihre Sünden gegen Gott und Tante mit.
Lange erwartete ich irgendeine Strafe dafür. Dann begriff ich, dass diesen Sünden keine Strafe auf den Fuß folgte, weil weder meine Tante etwas davon bemerkte, noch Gott ein Donnerwetter auf meine Eltern niederfahren ließ. So lernte ich, dass Kinder ihre Eltern belügen oder ihnen Wichtiges verheimlichen dürfen, wenn sie nur gescheite Ausreden erfinden.
Dies mag auch der Grund sein, warum es mich nicht wirklich belastet, meinen Eltern niemals gestanden zu haben, was in der Zeit geschah, die ich mit unserem damaligen Vikar verbrachte.
Vom Berufensein
Auch in der Grundschulzeit und später auf dem Gymnasium nahmen meine Eltern meist kritiklos hin, was ich tat, wenngleich es sie sicher oftmals ärgerte oder sie es einfach nicht verstanden. Sie konnten sich nicht überwinden, mich strenger in die Pflicht zu nehmen. Mich quasi antiautoritär aufwachsen zu lassen war möglicherweise der für meine Eltern bequemste Weg, vor allem, weil dieser Erziehungsstil in der so genannten High Society unseres Ortes en vogue war. Wer etwas auf sich hielt, erschien zumindest nach außen hin besonders tolerant und großzügig seinen Kindern gegenüber. Insbesondere hatte es in meiner frommen Großfamilie das gewisse Etwas, mich unter dem Motto »Gottes Wege sind unerforschlich« aufwachsen zu lassen. Wer
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