Er war ein Mann Gottes
wusste denn schon, ob mein >Anderssein< nicht seine tiefere Ursache im Willen Gottes hatte? Vielleicht war ich ja eine Berufene? Schließlich wäre ich nicht die Erste aus unserer Familie gewesen, die sich für ein Leben im Kloster entschieden hätte.
Wahrscheinlich war die traditionelle Verbundenheit mit der Kirche in meiner Familie der Grund, dass es niemanden befremdete, als ich mit zwölf Jahren mein Leben ganz auf die Kirche auszurichten begann. Keiner stellte mir Fragen oder kritisierte mein Verhalten, da ich wohl als durch Gott berufen galt, auch wenn mir selbst dies noch nicht bewusst sein sollte. Die Erwachsenen in meinem sozialen Umfeld schienen dies jedoch klar zu erkennen. Gesprochen wurde darüber allerdings nie, denn die Dinge Gottes hatten nicht die Dinge des Menschen zu sein. Ich denke, dass meine Eltern tatsächlich glaubten, ich sei berufen. Dies muss der Grund gewesen sein, dass sie mich derart gewähren ließen, als ich mich so völlig dem liturgischen Dienst in der Kirche widmete. Niemals hätten sie sich gegen den Willen des Herrn gestellt, der mich vielleicht eines Tages als Braut Christi ins Kloster führen würde.
Dass ich auch in diesem Punkt ihrer elterlichen, schützenden Grenzen bedurft hätte und sie mich durch den Verzicht auf jede Kontrolle in unverantwortlicher Weise fallen ließen, war ihnen mit Sicherheit nie klar. Es ging ja in ihren Augen um die Kirche, um das Beste und Reinste der Welt.
Anders als meinen gleichaltrigen Freundinnen, die ich darum glühend beneidete, wurde mir nicht strengstens verboten, dass ich bereits vor Schulbeginn zur Kirche eilte und trotz meiner Jugend noch nachts um elf oder nicht selten sogar später unserem Vikar im Pfarrhaus unbegleitete Besuche abstattete. Nie gab es irgendeinen Einwand meiner Eltern, dass ich keine Gelegenheit ausließ, in seiner Nähe zu sein. Er war schließlich ein Mann Gottes.
Mit ebenso großem Wohlwollen wurde betrachtet, dass das einzige Fach in der Schule, das ich wirklich mit Ehrgeiz betrieb, Religion war. Damals war mir völlig unklar, warum meine Eltern meine schwachen schulischen Leistungen in allen anderen Fächern so wenig interessierten.
Heute nehme ich an, dass sie sich auf die Bibel bezogen. Jesus Christus hatte es vorgemacht. Er hat allen Christen gezeigt, dass schon Kinder den Tempel als das Haus ihres wahren Vaters erkennen und aus dem weltlichen Elternhaus fortlaufen, um dort zu sein und sich zu ihrem himmlischen Vater zu bekennen. Auch die Jünger mussten Vater und Mutter, Frau und Kinder verlassen, um Jesus zu folgen. Und den Frauen befahl er, die Dinge des Herrn wichtiger zu nehmen als ihre Hausfrauenpflichten.
In diesem Sinn gehorchte ich nach dem religiösen Verständnis meiner Eltern anscheinend einem höheren Gebot, wenn ich mich lieber in der Kirche und bei unserem Vikar im Pfarrhaus aufhielt als bei uns zu Hause und lieber für Religion büffelte als für Deutsch.
Wahrscheinlich hätte meine Familie es sogar freudig und dankbar begrüßt, wenn aus dem aufmüpfigen, unangepassten, so früh eigene Wege gehenden >enfant terrible< eine Gottberufene geworden wäre, die ihr Heil als barmherzige Schwester im Kloster gesucht hätte.
Doch wenngleich mich bis heute alles, was mit dem Klosterleben zusammenhängt, interessiert und ich während meiner Ausbildung mehrmals zu Exerzitien im Kloster war, wo ich dauerhaft Freundschaft mit der einen oder anderen Klosterschwester schloss, kam ein Leben als Nonne für mich nie in Betracht.
Ministrantin
Der Pfarrer unseres Schwarzwaldstädtchens am Fuße des Feldberges war ein feister, herrschsüchtiger und eitler Mann, der wegen seiner Strafpredigten gefürchtet war, die über die Gemeinde hinwegdonnerten und mit den Namen der anwesenden Sünder gespickt waren. Wegen seiner Vorliebe für das Wörtchen »Punktum« war er über unsere Gemeinde hinaus unter diesem Spitznamen bekannt.
Hatte er jemanden auf dem Kieker, konnte dieser sich durchaus im »Gemeindeblättle« an den Pranger gestellt finden. Obwohl dort der Name nicht genannt wurde, ging doch aus dem Kontext klar hervor, um wen es sich handelte, so dass dem »von ganz oben« Gescholtenen der Spießrutenlauf durch die Gemeinde sicher war.
Der Herr Pfarrer war fest davon überzeugt, dass Jesus Christus nur Männer als Jünger und Apostel angenommen und zu sich an die Abendmahlstafel berufen habe, weil einzig Adam als erster Mensch nach dem Abbild Gott Vaters erschaffen wurde, Eva aber bloß aus der Rippe
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