Er
ans Ende seiner Möglichkeiten gelangt. Gerade noch zu einem war er fähig, den Kerzenständer vom Tisch zu reißen und mit ihm den goldgerahmten Spiegel einzuschlagen. Annick hätte er bereits schon nicht mehr erschlagen können, es reichte nur für diese eine Tat. Jene, über die man sagte, sie seien zu allem fähig, waren im Gegenteil zu nichts mehr fähig außer zu einem.
Nächtelang weinte er, mit Marleen im Arm, sie zerrieb mit ihren Händchen die Tränen auf seinem Gesicht. Das Zentrum des Schmerzes war die Erkenntnis, dass er nie der Einzige gewesen war. Nicht, als sie sich zum ersten Mal küssten, nicht, als sie die erste Nacht miteinander verbrachten, nicht, als ihre Stirnen über Marleen sich berührten. Der Betrüger ist stets auch ein Verräter, dachte Jensen, und unter den Bedingungen des Verrats gibt es keine Intimität. Selbst wenn Annick dem anderen kein Wort mitteilte über das, was zwischen ihr und Jensen geschah, so war der andere dennoch an allem beteiligt, ein Mitwisser, indem er an Annick beteiligt war. Sie war die Botin zwischen zwei Männern, sie überbrachte keine Informationen, aber sich selbst. Momente der Nähe waren auch immer Momente der Nähe mit dem anderen, der sie vielleicht vor einer Stunde selbst noch geküsst hatte.
»Ich gehe mit ihm nach Yonkers«, sagte Annick. »New York.«
»Ich habe dir nicht genügt«, sagte Jensen.
»Du genügst dir zu sehr selbst.«
Jensen hörte sie sagen, sie liebe beide, aber die Situation sei unerträglich, schon immer gewesen, deshalb jetzt die Entscheidung. »Und er würde es nicht ertragen, wenn ich ihn verlasse. Du schon. Sei ehrlich.« Jensen lachte. In den nächsten Tagen, wenn er Annick begegnete, lachte er nur, sagte kein Wort. Er erforschte die Vergangenheit: Hatte er nie etwas bemerkt? Verdachtsmomente? Nein. Das sprach gegen sie, sie war durchtrieben. Es gehörte viel Entschlossenheit und Energie dazu, mehr als zwei Jahre lang sich von zwei Männern vögeln zu lassen, dachte er ohnmächtig. Dass sie blind war, kam ihr dabei zugute, es fehlte die Sicht in ihr Inneres, es war schwer, einer schwarzen Sonnenbrille die Lüge anzusehen. Jensen schlug mit den Knöcheln gegen die Tischkante, der innere Schmerz war unerträglicher als ein paar Schnitte in den Unterarm, er verstand das jetzt. Eine monströse Entwertung des Liebesgeflüsters, Annick, ich liebe dich, Annick, küss mich, Annick, dein Hals duftet wunderbar. All das hatte er zum anderen gesagt, denn am nächsten Tag lag sie in dessen Armen und wiederholte, was sie zu Jensen gesagt hatte, es war in höchstem Maße repetitiv. Und es war unfassbar trivial. Es führte zu keinen Erkenntnissen mit Niveau. Es ließ sich nichts Kluges darüber denken, es war einfach nur beschissen und widerwärtig, der andere ein armes Schwein, sie eine hinterhältige Hure und er ein Vollidiot, das war die Sprache, die dazu passte.
Der Hund im Dunkeln, eine atmende Erinnerung, morgen werfe ich Ballast ab, dachte Jensen. Er knipste das Licht an und betrachtete den Hund, der seinerseits ihn betrachtete, in den Augen die blanke Unschuld. Und doch hatte dieser Hund Annick zu dem anderen geführt, an seiner Leine hatte sie den Weg zu seiner Tür gefunden, das Schmatzen der Küsse hatte der Hund gehört, den Schweiß des anderen gerochen, wenn sich diesem die Hose spannte. Im Gehirn des Hundes war Annicks Stöhnen enthalten, hundertmal musste er es gehört haben, wenn er vor der Schlafzimmertür Wache hielt. Selbst der Hund gehörte dem anderen, denn er war mit ihm in Berührung gekommen, und Berührung bedeutete Inbesitznahme. Der andere hatte Annick berührt und den Hund, und nun versuchte er über den Hund auch Jensen zu berühren, er spürte es als kalten Hauch. Vom Bett aufstehen, die Tür des Hotelzimmers aufreißen und den Hund am Halsband auf den Korridor zerren war eine einzige, befreiende Bewegung. Mit Wucht warf Jensen die Tür zu. Zwischen ihm und dem Hund war jetzt Holz, daran befestigt der Fluchtplan für den Brandfall.
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7
»W AS WILLST DU?« Toni trug einen blauen Schlafanzug mit Papageien.
»Ich bringe dir den Hund«, sagte Jensen. »Du möchtest doch einen Hund.«
»Mama ist nicht da, und ich will keinen Hund.«
Es war Mittag, die vereinbarte Zeit der Hundesübergabe.
»Wo ist denn deine Mutter?«
»Sie will dich nicht mehr sehen«, sagte Toni, sie sah in dem Schlafanzug aus wie eine einzelne Blume in einer zu großen Vase. »Sie hat gestern die ganze Nacht geweint. Das hat sie
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