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Er

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Titel: Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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Jensen behauptete, ein Tag auf den Beinen verlängere eine Grippe um drei Tage, es sei ineffizient, nicht im Bett zu liegen.
    Während Lea die Aushilfe telefonisch instruierte, klopfte Jensen an Tonis Tür. Sie saß im Bett, mit einem Notebook auf den Knien, und mit einem gewissen Unbehagen richtete er ihr aus, dass sie für den Vortrag lernen müsse.
    »In Nigeria sind achtundneunzig Menschen bei einem Flugzeugabsturz umgekommen«, sagte Toni. »All diese Menschen haben sich gestern noch die Zähne geputzt und für Vorträge gelernt. Und wozu? Alles verlorene Zeit.«
    Jensen dachte, dass Intelligenz manchmal einfach nur anstrengend war. Für mehr Druck auf Toni fehlte ihm das Mandat, also trollte er sich, so kam es ihm vor. Durch die Wohnung schritt er jetzt schon als Eingeweihter, bereits störte ihn der zu flauschige weiße Teppich im Durchgangszimmer. Man kam sich, wenn man über ihn ging, unrein vor, bei dem Gedanken fiel Jensen ein, dass er den Hund schon lange nicht mehr gesehen hatte. Wahrscheinlich lag er in der Küche, er mochte kalte Böden.
    Lea lag nun unter der Decke, sie trug ein weißes Nachthemd mit spitzenbesetztem Kragen, kokett großmütterlich, und sie fragte ihn nach Toni, ob sie lerne, er sagte: »Nicht solange in Nigeria Menschen sterben.« Sie wollte gleich wieder aufstehen und Toni zurechtweisen, das Bett schien mit Disteln ausgelegt zu sein. Er versprach, Toni nochmals zum Lernen aufzufordern, und nun fragte Lea nach den Essigsocken. Er hatte vergessen, sie einzuweichen, das verschwieg er ihr. Weshalb überhaupt Einweichen, welche medizinischen Wunder wurden dadurch ermöglicht? Essigsocken waren das Pendant zu Sonnenuhren, er verstand nicht, weshalb Lea bei so hohem Fieber nicht einfach Paracetamol schluckte.
    »Weißt du, was Paracetamol im Körper anrichtet?«, sagte sie.
    In der Küche übergoss er die Wollsocken mit Kräuteressig aus dem Bioladen, der Hund hockte mit gekräuselter Nase neben der Waschmaschine, es war ein ätzender Essig.
    Im Schlafzimmer zog Lea die Bettdecke bis zu den Knien weg, damit ihre Füße freilagen. Jensen berührte sie zum ersten Mal willentlich. Er hob den einen Fuß an der Ferse hoch, er versuchte, zärtlich zu sein im unpassenden Augenblick, fand es lächerlich und fasste sie sachlicher an. Die Socke musste über den Fuß, das war alles. Über die Socken stülpte er je eine Mülltüte, damit es nicht tropfte. Der Eindruck amputierter Füße entstand.
    Sie richtete sich im Bett auf, eine Haarlocke fiel ihr in die Stirn. Sie schaute ihn eine Weile an, besorgt. Dann griff sie nach seiner Hand. Sie drückte sie verbindlich und sagte: »Versprich mir, dass du mir und Toni nie etwas antun wirst.«
    »Warum sollte ich euch etwas antun?« Er war irritiert. Konnte sie nicht einfach Danke sagen?
    »Versprich es mir.« Er spürte den Ernst, eine gewisse Feierlichkeit auch, aber es widerstrebte ihm, ein Gelübde abzulegen, das in sich eine Art Geständnis barg, er hatte nichts zu gestehen, ihm war ihr Gedanke völlig fremd. Dennoch, weil sie es so sehr wünschte, sagte er: »Natürlich verspreche ich es.«
    Etwas Unausgesprochenes trennte sie. Er suchte ihren Blick, sie wich aus. Unten auf dem Hof klirrten Flaschen.
    »Danke«, sagte sie und legte sich wieder hin.
    Die Klavierlehrerin erklärte ihr blaues Auge unaufgefordert sehr detailliert. Es ging um eine Schranktür, in der Küche, und man will sich erheben, nachdem man aus einem unteren Fach eine Teflonpfanne entnommen hat, vergisst die offene Schranktür mit der hervorstehenden Kante, und so ist es gekommen.
    Toni sagte: »Mama sagt, dass viele Männer ihre Frauen schlagen. Aber Sie sind ja nicht verheiratet.«
    Die Klavierlehrerin wurde rot. Jensen bezahlte sie, dann fütterte er den Hund, hörte Toni auf dem Klavier Tonleitern abarbeiten, wechselte Leas Essigsocken, er hätte auch die Fenster geputzt. Er fühlte einen schmalen Durchgang, einen Fluchtspalt, weg von Annick und hin zu etwas Neuem, und jede Verrichtung hier in Leas Wohnung weitete den Spalt, bald konnte er durchschlüpfen. Marleen fehlte ihm sehr. Es war so schön gewesen, genau zu wissen, weshalb man Arbeiten verrichtete, die eigentlich unzumutbar waren. Das Wechseln vollgeschissener Windeln während einer Zugfahrt hatte Jensen sich nie erträumt, ebenso wenig das In-den-Schlaf-wiegen, wenn das Wiegen sehr viel länger dauert als hinterher der Schlaf. Das Baby war ein Schrei im Ohr gewesen und ein offener Mund, aus dem der mühsam

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