Götterbund (German Edition)
Götterbund
Prolog
Als Königin Schelash aus dem Palast trat, empfing sie undurchdringliche Dunkelheit. Doch sie benötigte kein Licht. Den Weg, den sie zu gehen hatte, hätte sie selbst im Schlaf gefunden. Mit blinder Sicherheit schritt sie die Stufen hinab, als plötzlich etwas am Saum ihres Kleides zog. Vor Überraschung stolperte Schelash, fing sich im letzten Moment wieder und konnte gerade noch verhindern, dass ihre neugeborene Nichte aus ihren Armen glitt.
„Rajatshas!“, herrschte die Königin ihren dreijährigen Sohn an, der sich noch immer an ihren Kleidsaum klammerte. Der Säugling auf Schelashs Arm wimmerte ängstlich, doch sie achtete nicht darauf. „Du kannst nicht mitkommen.“ Sie fixierte Rajatshas, dessen Gesicht sie in der Dunkelheit kaum erkennen konnte. „Geh sofort zurück in den Palast!“ Damit entriss sie dem Jungen den Stoff und eilte weiter. Sie wollte die leidige Prozedur, die ihr bevor stand, so schnell wie möglich hinter sich bringen. Schelashs Schritte hallten auf dem Steinboden wider, als sie über den großen Platz schritt. Dann hatte sie ihr Ziel erreicht. Sie schlug die schweren, blutroten Vorhänge zurück und betrat den Tempel. Einen Moment stand sie regungslos im Dunkeln, dann flackerten die Kerzen auf und erleuchteten die Göttersymbole an den Wänden.
Die Königin seufzte gereizt, als ihre Nichte zu zappeln begann. Für einen Moment wünschte Schelash, die Mutter des Kindes wäre noch am Leben. Dann müsste nicht sie sich mit dem anstrengenden Balg herumplagen.
Aus den Augenwinkeln nahm Schelash eine Bewegung des roten Vorhangs wahr und wandte sich um. Rajatshas kämpfte sich durch den Stoff und blieb, als er es geschafft hatte, mit großen Augen stehen.
„Was habe ich dir gesagt?“
„Was ist das?“ Den Ärger seiner Mutter ignorierend näherte sich der Junge der tönernen Amphore, welche neben einer Metallschale in der Mitte des Tempels stand. Rajatshas hielt sich am Rand des Gefäßes fest, welches fast ebenso groß war wie er, und lugte hinein.
„Rajatshas!“, herrschte Schelash. Der Säugling auf ihrem Arm brach in erschrecktes Schreien aus. Die Königin gab sich alle Mühe, es zu ignorieren. Was war nur mit ihrem Sohn los? Normalerweise folgte er ihr aufs Wort. „Komm her!“
Endlich gehorchte der Junge.Mit hängendem Kopf trottete er zu seiner Mutter zurück.
„Setz dich hier hin und rühr dich nicht von der Stelle!“
Der Junge nickte ergeben.
Mit einem misstrauischen Blick auf ihren Sohn trat Schelash zu der Amphore, die auf Rajatshas so anziehend gewirkt hatte. Sie griff mit einer Hand in die Gewürzmischung, die sich darin befand, schöpfte etwas davon heraus und ließ sie in die metallene Schale rieseln. Augenblicklich schoss eine Stichflamme daraus empor und verbrannte die Mischung, deren süßlicher Duft von Beeren, Weihrauch und Vanille den Tempel erfüllte.
Langsam näherte sich Schelash dem größten aller Göttersymbole, welches mit roter Farbe an die Wand gemalt worden war. Der Gott, dem dieses Zeichen gewidmet war, hieß Casaquann. Er war der mächtigste aller Götter, derjenige, der die Menschheit erschaffen hatte. Er war außerdem der Schutzgott von Rajatshas, ein Glückstreffer, auf den die Königin niemals zu hoffen gewagt hätte.
Der Tradition folgend kniete Schelash vor dem Symbol Casaquanns nieder und wartete, dass einer der Götter erscheinen würde. Der eine, der mit ihrer Nichte den Bund eingehen würde. In diesem speziellen Fall war es egal, welcher von ihnen es sein würde. Keiner besaß so viel Macht wie Casaquann. Was bedeutete, dass auch ihre Nichte niemals so mächtig werden würde wie Rajatshas, der den Bund mit dem mächtigsten aller Götter eingegangen war.
Die Luft begann zu flirren. Schelash beobachtete, wie sich vor dem hell erleuchteten Symbol Casaquanns eine Gestalt materialisierte. Der Königin stockte der Atem, als sie das dicke weiße Haar und den roten Umhang erkannte. Sprachlos blickte sie dem alten Mann in die bernsteinfarbenen Augen. Es konnte sich nur um ein Missverständnis handeln.
„Was hat das zu bedeuten?“, flüsterte Schelash kaum hörbar.
Regungslos sah der Gott auf sie herab. Und während die Königin in Casaquanns Augen blickte, begann sie zu begreifen, dass es kein Irrtum war. „Was hat das zu bedeuten?“, wiederholte sie.
Casaquann antwortete nicht. Stattdessen streckte er die Hände aus. „Gebt mir das Kind.“
Doch Schelash war wie erstarrt. „Ihr könnt nicht
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