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Er

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Titel: Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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lustig. Er wollte nicht, dass man ihn Freddy nennt, er sagte«, sie ahmte ihn mit tiefer Stimme nach, »wem ich es nicht wert bin, dass er meinen ganzen Namen ausspricht, auf dessen Freundschaft verzichte ich. Ich nannte ihn trotzdem Freddy, und weil er mein Papa sein wollte, konnte er nichts dagegen tun, außer beleidigt gucken. So.« Sie guckte beleidigt. »Aber egal, nach drei Monaten ist er verrückt geworden. Jetzt macht er eine Therapie. Der Zweite hieß Hans und ist abgehauen, nach München, wo er angeblich arbeiten muss. Aber ich glaube, er hat es einfach nicht ausgehalten. Der …«, sie flüsterte, »… Dibbuk hat ihm nachts in den Nacken gebissen. Das kann ganz schön wehtun. Hossam hat Mama dauernd Blumen mitgebracht, der war auch ganz schön gaga. Mama verkauft doch Blumen, sie freut sich doch nicht, wenn man ihr welche mitbringt. Sie mag Marzipan in schwarzer Schokolade, und wenn die Papas bei ihr sind, macht sie Geräusche. So.« Toni imitierte Stöhnen. »Bei manchen Papas macht sie’s nur ganz leise, bei anderen so laut, dass ich erwache, und am nächsten Morgen soll ich dann eine Eins in Mathe schreiben, kannst du vergessen. Aber ist ja egal, die verschwinden ja alle wieder. Wegen dem, du weißt schon, wer.«
    Das Teewasser kochte. Ein Dibbuk, dachte Jensen, war der Geist eines unruhigen Toten, ihm kam in den Sinn, dass Tonis Vater vielleicht gestorben war und sie mit dem Dibbuk ihn meinte.
    »Und dein Vater?«, fragte Jensen. »Siehst du ihn oft?«
    »Wo sind meine Kontaktlinsen?«, sagte sie. »Wo sind meine blöden Kontaktlinsen?« Sie suchte sie unter der Zeitung, die auf dem Tisch lag. »Blöde Kontaktlinsen, wo seid ihr, ich will was sehen!« Sie zog Schubladen auf, Besteck klirrte, die Frage brachte sie aus dem Lot, das tat Jensen jetzt leid.
    »Ah, da stecken sie!«, sagte sie. »Mein Vater ist Pianist. Er ist sehr viel unterwegs beruflich. Aber einmal im Monat sehe ich ihn, ein ganzes Wochenende lang. Sein Name kommt im Internet zwanzigtausendmal, wenn man ihn eintippt. Und dein Name, wie oft kommt der?«
    »Wahrscheinlich gar nicht«, sagte Jensen.
    »Du musst ja ziemlich einsam sein«, sagte Toni.
    Sie lag angezogen auf dem Bett, den Rücken ihm zugedreht, von Erschöpfung und Fieber niedergestreckt, so schien es ihm, keine Zeit, unter die Decke zu schlüpfen, unabkömmlich, die Grippe musste im Stehen auskuriert werden. Leise, um sie nicht zu wecken, falls sie schlief, stellte er den Teekrug aufs Nachttischchen, auf dem ein Erzählband von Kafka lag, Ohrstöpsel mit deutlichen Schmalzrändern, ihr Handy, eingeschaltet. Sie wog auf dem großen Bett nichts, ihre schmalen Füße schienen den Bettüberwurf nicht zu berühren, im Ärmel der wollenen Strickjacke, die sie trug, ein in höchstem Maße ästhetisches Loch, fast perfekt rund, darunter ihre Haut, in harmonischem Zusammenspiel. Dieses Loch im Ärmel berührte ihn durch die beiläufige Schönheit so sehr, dass er sich vorsichtig über Lea beugte, um es aus größtmöglicher Nähe zu betrachten. Ein Krankheitsduft stieg von ihr auf, er hatte etwas Tropisches, Überhitztes, feuchte, vom Fieber gereizte Haut, und in diesen Duft mischte sich der ihrer Haare, streng wie Stroh, er atmete das alles tief ein und erschrak, als sie plötzlich murmelte: »Toni muss für ihren Vortrag lernen. Sie ist nicht krank, nur müde, weil sie gestern bei Anna übernachtet hat. Könntest du ihr bitte sagen, dass sie lernen muss. Werde sie heute Abend abfragen.« Sie drehte sich auf den Rücken, mit geschlossenen Augen, murmelte weiter: »Und um fünf kommt die Klavierlehrerin. Ich bin nicht dazu gekommen, Geld zu holen. Kannst du sie bezahlen? Zwanzig Euro, ich geb’s dir morgen zurück.« Er versicherte ihr, dass er alles erledigen werde, sie müsse jetzt aber Tee trinken, und ob sie das Fieber gemessen habe, er wunderte sich über seine Fürsorglichkeit, vor allem, weil sie Nähe erzwang, der Mindestabstand zum Erkrankten, ein Meter, konnte nicht eingehalten werden. Sie trank einen Schluck Tee, verschluckte sich, deutete mit dem Finger auf ihren Rücken, hustend, und er schlug mit der flachen Hand auf ihre Wirbelsäule, viel zu sanft, der Tee blieb eine ganze Weile in der Luftröhre. Als sie ihn endlich rausgehustet hatte, stieg sie vom Bett, dabei stützte sie sich auf sein Knie, sie sagte: »Die Lieferung. Das habe ich ganz vergessen.« Um zwei Uhr wurden Blumen angeliefert, sie musste die Ware kontrollieren, die Aushilfe verstand davon nichts.

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