Eragon 04 - Das Erbe Der Macht
militärische Strategie.
Eragon dachte an den Tag, an dem Nasuada beschlossen hatte, das Bündnisangebot der Urgals anzunehmen – trotz des Hasses zwischen ihren beiden Völkern, und obwohl es Urgals gewesen waren, die ihren Vater getötet hatten. Wäre ich dazu fähig gewesen? Er glaubte nicht – zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt. Kann ich solche Entscheidungen jetzt treffen, wenn sie notwendig werden, um Galbatorix zu besiegen?
Er war sich nicht sicher.
Er bemühte sich, seinen Geist zu beruhigen. Nachdem er die Augen geschlossen hatte, konzentrierte er sich darauf, seine Atemzüge zu zählen, immer bis zehn. Es war schwierig, sich auf diese Aufgabe zu konzentrieren, denn alle paar Sekunden drohte ein neuer Gedanke oder ein neues Gefühl ihn abzulenken, und oft vergaß er dann doch, zu zählen.
Mit der Zeit entspannte sich sein Körper jedoch, und langsam, fast ohne dass er es bemerkte, glitt er in die regenbogenbunten, sich ständig verändernden Visionen seiner Wachträume hinüber. Er sah viele Dinge. Einige düster und beunruhigend, während seine Träume die Ereignisse des vergangenen Tages widerspiegelten. Andere bittersüß: Erinnerungen an das, was gewesen war, oder wovon er sich wünschte, es wäre so gewesen.
Dann – wie ein sich plötzlich drehender Wind – kräuselten sich seine Träume und wurden konkreter, als befände er sich in einer realen Welt, die er nicht nur sehen, sondern auch berühren konnte. Alles um ihn herum verblasste und er erblickte einen anderen Ort zu einer anderen Zeit – einen Ort, der ihm fremd und vertraut zugleich vorkam, als habe er ihn vor langer Zeit schon einmal gesehen und als wäre er dann in den Tiefen seines Gedächtnisses verloren gegangen.
Eragon öffnete die Augen, doch die Bilder blieben und überdeckten seine Umgebung. Da wusste er, dass er keinen normalen Traum erlebte:
Eine dunkle und einsame Ebene lag vor ihm, durchzogen von einem Streifen Wasser, das gemächlich nach Osten floss: ein Band aus gehämmertem Silber, das im Schein des Vollmonds glänzte … Auf dem namenlosen Fluss trieb ein großes, stolzes Schiff, dessen blendend weiße Segel gehisst waren … Reihen von Kriegern mit Lanzen … Zwischen ihnen hindurch schritten zwei in Kapuzenumhänge gehüllte Gestalten wie bei einer würdevollen Prozession. Der Geruch von Weiden und Pappeln, ein Gefühl von vorübergehendem Kummer … Dann der gequälte Schrei eines Mannes, ein Aufblitzen von Schuppen und ein Durcheinander von Bewegungen, das mehr verbarg, als es enthüllte.
Und dann nichts als Stille und Schwärze.
Eragons Sicht klärte sich und er sah wieder die Unterseite von Saphiras Flügel vor sich. Er stieß den Atem aus – von dem er nicht gewusst hatte, dass er ihn angehalten hatte – und wischte sich mit einer zitternden Hand die Tränen aus den Augen. Er verstand nicht, warum die Vision eine so starke Wirkung auf ihn hatte.
War das eine Vorahnung?, fragte er sich. Oder geschieht in diesem Augenblick tatsächlich irgendwo etwas? Und warum ist es für mich von Bedeutung?
Danach konnte er keinen Augenblick mehr Ruhe finden. Seine Sorgen kehrten mit Macht zurück und bestürmten ihn ohne Gnade. Sie nagten an seinem Geist wie ein Heer von Ratten und jeder Biss schien ihn mit einem schleichenden Gift zu infizieren.
Schließlich kroch er unter Saphiras Flügel hervor – wobei er achtgab, sie nicht zu wecken – und wanderte zu seinem Zelt zurück.
Wie zuvor erhoben sich die Nachtfalken, als sie ihn sahen. Ihr Kommandant, ein untersetzter Mann mit einer krummen Nase, trat auf Eragon zu. »Braucht Ihr irgendetwas, Schattentöter?«, fragte er.
Eragon erinnerte sich vage, dass der Name des Mannes Garven war, und ihm fiel noch etwas ein, was Nasuada ihm erzählt hatte: dass nämlich der Mann den Verstand verloren habe, weil er den Geist der Elfen untersucht hatte. Jetzt schien es dem Mann wieder gut zu gehen, obwohl sein Blick etwas Träumerisches hatte. Trotzdem nahm Eragon an, dass Garven in der Lage war, seine Pflichten zu erfüllen. Anderenfalls hätte Jörmundur ihm niemals gestattet, auf seinen Posten zurückzukehren.
»Im Moment nicht, Hauptmann«, antwortete Eragon leise. Er machte noch einen Schritt, dann hielt er inne. »Wie viele der Nachtfalken wurden heute Nacht getötet?«
»Sechs, Herr. Eine ganze Wache. Wir werden für einige Tage unterbesetzt sein, bis wir passenden Ersatz gefunden haben. Und wir werden darüber hinaus zusätzliche Rekruten brauchen, denn wir wollen die
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