Erdwind
fangen.“
„Womit denn?“ fragte Elspeth und starrte zur Höhle. Auch sie war scheußlich hungrig. Schmerzhaft zog sich ihr Magen zusammen, ihr ganzer Körper schrie nach Nahrung und Wärme; etwas ruhiger als vorhin am frühen Morgen bekämpfte sie den Impuls, über das Schneefeld zur Höhle zu rennen. Sie setzte sich auf dem gefrorenen Boden zurecht und machte sich daran, einen einfachen Windschirm zu bauen.
„Mit Schnelligkeit“, erläuterte der junge Mann. „Die Weißflügler kennen nicht den Menschen und seine Listen. Man muß nur schnell sein.“
„Ich komme mit“, sagte Moir.
„Ich gehe allein“, wies ihr Bruder sie ab. Elspeth hatte keine Lust, sich noch lange Streitereien anzuhören, und schrie wütend: „Geht zusammen, ihr Dummköpfe! Hört gefälligst auf, euch zu streiten!“
Darren rannte los durch den Schnee, und Moir eilte ihm nach. Sie verschwanden in der Ferne hinter dem Hang.
Iondai und Elspeth warteten. Mit geschlossenen Augen hielten sie sich umschlungen und versuchten, durch ihren Willen die Kälte abzuhalten, doch sie froren jämmerlich.
Es war ihnen, als seien schon Stunden vergangen, und immer noch war von den beiden jungen Aerani nichts zu sehen. Gewaltsam riß Elspeth ihre Gedanken vom Erdwind los. Unvermittelt überkam sie eine Welle der Unruhe, ein schreckliches Vorgefühl, daß etwas nicht in Ordnung sei.
Und dann hörte sie aus der Ferne einen furchtbaren Schrei, als würde ein Mensch grausam getötet …
Augenblicklich war sie auf den Füßen und rannte durch den Schnee – bei jedem Schritt roch sie Blut und Tod.
Ein Gesicht starrte sie an, ein Mund öffnete sich in lautloser Todesqual … Blut auftreibendem Schnee. Sie lief über einen Grat und blieb stehen.
Ein paar Yards weiter zerrte Moir ein Kristallmesser aus einem Loch in Darrens Schädel, dicht über den Augen. Sie blickte hoch, als sie Elspeth kommen sah, und hielt eine Sekunde lang inne; schlaff und leer hing der Beutel an ihrem Hals … (Darrens Messer? Hatte sie das Initiationsgeschenk ihres Bruders gestohlen?) Dann riß und ruckte sie wieder an dem Messer, bis es freikam. Darren krümmte sich und zuckte noch einmal kurz auf; dann lag er still. Seine Augen starrten nach oben, der Mund stand offen.
Moir stand über dem Leichnam und sah Elspeth an.
Elspeth schrie auf; Wut und Trauer gaben ihrem Schrei einen unirdischen Klang. Sie rannte durch den Schnee zu dem Toten hin. Moir fuhr herum und floh, in der Annahme, Elspeth wolle sich auf sie stürzen; rutschend und gleitend rannte sie bergabwärts, bis sie nicht mehr zu sehen war.
Elspeth nahm Darren in die Arme und weinte bittere Tränen. Fest hielt sie ihn an sich gepreßt und versuchte, etwas von ihrer eigenen Körperwärme in den erstarrenden Leichnam überzuleiten. Wieder und wieder rief sie ihn beim Namen; und erst als Iondai sie am Arm zog, löste sie sich von dem toten Jungen.
Der Tote behielt seine sitzende Stellung, doch sank der Oberkörper zurück in den Schnee, die Knie blieben angezogen und standen hoch. Seine Haut unter der Behaarung war eisig blau, sie fühlte sich kalt und knochenhart an.
„Ich habe es kommen sehen“, sagte Iondai. „Ich habe gesehen, daß es so kommen mußte.“
„Ich habe niemals geglaubt … nie …“
„Komm weiter. Wir haben noch einen langen Weg bis zur Höhle, wo wir geschützt sind.“
„Du hast es gewußt!“ schrie sie den Seher an. „Du hast gewußt, daß sie auf diese Weise zur Kriegerin werden würde – warum hast du ihn nicht gewarnt? Du hast es gewußt!“
„Was hätte er schon tun können? Komm weiter, Elspeth – bitte!“
Doch sie schüttelte den Kopf und kniete weiter bei dem Jungen, der sie so geliebt hatte.
Die Zeit verstrich. Der Himmel wurde immer bedrohlicher, und schließlich fing es heftig an zu schneien; ein dickes Schneelaken deckte den Toten zu und Elspeth auch, die immer noch steif und starr bei Darren kniete. Trauer und Angst mischten sich in ihr, doch ihrem Gesicht war nichts von beidem anzusehen, so kalt und tot war ihr Fleisch.
Erst als Iondai über den Schnee gerannt kam und ihren Namen rief, stand sie mühsam auf.
„Er kommt!“ schrie der Seher und deutete den Hang hinauf. „Er kommt! Schnell!“
„Wer?“
„Gorstein. Er ist uns gefolgt. Er lebt noch.“
Sie rannte zum Grat und blickte auf den Weg zurück, den sie gekommen waren. In der Ferne, vom treibenden Schnee verschleiert, sah sie den Mann herankommen. Er war zerlumpt und blutig, doch deswegen ging
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