Erdwind
er keineswegs langsamer. Sein rechter Arm hing steif herunter. Er spähte durch den Schnee, entdeckte schließlich Elspeth und setzte sich in Trab. Sekunden später klang sein Triumphgeschrei an ihr Ohr; sie fuhr herum und floh auf die ferne Höhle zu.
Iondai stapfte hinterher und hielt mit ihr Schritt. Der fallende und der liegende Schnee dämpften ihr Stapfen und Keuchen; wortlos strebten sie der fernen Höhle zu. Elspeth hielt ihr mörderisches Tempo; nicht einmal als sie es hinter sich krachen und knacken hörte und Iondai um Hilfe rief, verlangsamte sie ihren Schritt. Sie blickte nur über die Schulter und sah Gorstein unbeirrt durch den Schnee hinken. Er hatte ein Schwert und einen Speer, sein Gesicht war maskenhaft verzerrt vor Anstrengung, doch in seiner ganzen Haltung war etwas Triumphierendes.
Ohne sich um Iondai zu kümmern, rannte sie weiter. Sie würde es nie schaffen, das war ihr klar. Er hatte schon zu dicht aufgeschlossen, die Höhle war noch zu weit; und doch rannte sie vorwärts, schmerzhaft brannte die bittere weiche Kälte in ihren Lungen.
Als sie noch einmal zurückblickte, sah sie, daß Gorstein stehengeblieben war. Er beugte sich über Iondai und zerrte energisch an dem sich heftig wehrenden Seher. Sie konnte sich nur zu deutlich vorstellen, was er tat. Da schnitt auch schon Iondais schriller Todesschrei durch den wirbelnden Schnee; doch dieser Schrei bestärkte sie nur noch mehr in ihrem Entschluß, die Höhle zu erreichen.
Plötzlich hatte sie nackten Felsen unter den Füßen. Sie zögerte kurz und spähte durch den weißen, wirbelnden Schleier auf den dunklen Schlund der Höhle, dann rannte sie mit einem Freudenschrei in den Bauch des Berges hinein, ihrem Ziel, dem Erdwind entgegen.
Das Echo ihrer Stimme lief rund um die Höhle. Durch eine Felsformation hoch über ihrem Kopf fuhr der Wind mit jammernd schrillem Ton. Wasser tropfte herab. Die Höhlendecke wurde hinten rasch niedriger und bildete eine flache, gedrückte Nebenhöhle, die, soweit sie es in dem trüben Licht erkennen konnte, ins Finstere verlief.
Aber sie war da! Endlich war sie da! In der Höhle, wo alles angefangen hatte, wo, wie Iondai gesagt hatte, der Erdwind selbst wohnte und herrschte!
Hohl und leer klang ihre Stimme. Widerhallend tropfte das Wasser unter dem Druck des schmelzenden Schnees herab und wurde auf dem glatten Boden rasch wieder zu Eis.
Sie sah auf den Boden, auf die Wände mit den vielen zackig herausragenden Vorsprüngen und Leisten – überall suchte sie nach dem Symbol; sie öffnete dem Erdwind Geist und Sinne, wollte von ihm besessen sein, erweckt werden …
Nichts!
Verzweifelt schrie sie auf (rostige Wrackteile, die in einer Ecke lagen, bedeuteten jetzt gar nichts mehr; die gehörten einfach zu diesem Loch in der Erde).
Nichts!
Wieder schwankte ihr Denken auf jenem schmalen Grat zwischen den beiden Abgründen, versuchte Gleichgewicht zu halten vor dem endgültigen Sturz ins Dunkel. Mit einem verzweifelten Schrei sank sie in die Knie, schlug die Hände an die Ohren, als könne sie sich damit gegen das Knacken und Knirschen ihres zerfallenden Geistes taub machen …
Ein Windstoß von hinten warf sie zu Boden, nicht bewußtlos, aber benommen, und sie leistete keinen Widerstand, als eine grobe Hand ihren Arm packte und sie umdrehte. Sie starrte zu dem Manne hoch, atmete seinen Geruch, sah die schlecht verbundene Brustwunde. Sie hielt ganz still, als er das Messer hob, nach ihrer Brust griff, den dünnen Stoff wegschnitt und zu lachen anfing, als die Klinge gegen Diamant schabte …
Schmerzen hatte sie nicht.
Sie lag zusammengekrümmt in einer Ecke, tief im Innern der Höhle, und beobachtete ihn, wie er am Eingang seine Trophäen prüfend hochhielt, so daß sie vor dem lautlos fallenden Schnee glommen und glitzerten.
Wenn sie ihn überhaupt sah, dann nur als Schatten unter anderen Schatten, denn nun war in ihrem Kopf nur noch Dunkelheit. Das Gewebe ihrer Vergangenheit, ihrer Wirklichkeit, war endlich ganz aufgelöst, und sie war leer, sie schwebte über dem rasiermesserscharfen Grat zwischen den beiden Abgründen. Entweder in den einen oder den anderen mußte sie stürzen, denn sie konnte sich an keiner neuen Stofflichkeit festhalten, konnte weder in dem einen noch in dem anderen Universum eine sichere Bleibe finden, nicht in dem, was sie verlassen hatte, noch in dem anderen, das sie fast erreicht hätte in ihrem verzweifelten Kampf um das Verstehen des Erdwinds.
Jetzt war ihr Kopf leer
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