0718 - Das Dorf der Toten
›Die Welt hat viele Ärsche - und ich habe die meisten davon schon gesehen!‹, lautete einer von Lancelot Farnsworth' Wahlsprüchen. Einer von den absichtlich zweideutigen, die er bei Vorträgen, Buchpräsentationen und auf Kongressen gerne zum Besten gab.
In erster Linie meinte er damit aber, dass er den Großteil seiner Zeit in Ecken der Erde zubrachte, in die es niemanden sonst zog. Denn diese abgelegenen Winkel der Welt waren prädestiniert für jene Wesen, denen sich die Kryptozoologie widmete: Bislang unentdeckte Lebensformen oder auch solche, die man im Allgemeinen für ausgestorben hielt und die eben doch - wenn auch nur in kleiner Zahl - überlebt hatten. Das legendäre Ungeheuer von Loch Ness etwa oder der kaum minder sagenumwobene Schneemensch waren wohl die bekanntesten Vertreter…
Für die sich Lance Farnsworth allerdings nicht im Geringsten interessierte.
Ganz im Gegenteil verdammte er Nessie und den Yeti sogar! Denn sie -oder vielmehr der alberne Kult und gelegentliche Medienzirkus, der um sie getrieben wurde, waren es, die den jungen Forschungszweig der Kryptozoologie in ein schlechtes Licht rückten und mitunter zur Lachnummer machten.
Beeinflussen ließen sich ernsthafte Kryptozoologen wie Farnsworth und namhafte Kollegen - darunter der Franzose Richard Teufelmans - von dieser eher spöttischen Haltung der Öffentlichkeit nicht. Teufelmans zum Beispiel hatte rund 20000 Indizien zu 150 Steckbriefen unbekannter Tiere geordnet. Dazu hatte er unter anderem auch Beobachtungen ins Kalkül gezogen, die Lance Farnsworth gemacht hatte.
Er war Dolchpardern und Riesenstraußen in Afrika auf der Spur gewesen, hatte Beutelwölfe auf Tasmanien beobachtet und Mammutspuren in den sibirischen Wäldern gefunden - und alles im Bild festgehalten. Das Publikum seiner Diavortragsreisen und die Leser seiner Bücher waren hinterher zwar trotz der unleugbaren Echtheit seiner Aufnahmen nicht vollends überzeugt, dass es zwischen Himmel und Erde mehr gab, als Brehms Tierleben und andere, spezifischere Standardwerke sich träumen ließen. Aber sie waren aufgeschlossener für die Idee und gingen vielleicht mit offeneren Augen durch die Welt.
Obgleich man diese ›Rätselgeschöpfe‹ freilich nicht in aller Welt antraf. Dazu musste man schon ihre entferntesten Ecken aufsuchen - und neben reichlich Geduld vor allem viel Glück im Gepäck haben…
Erstere hatte Farnsworth, auf letzteres konnte er, wie immer, nur hoffen. Außerdem gehörte zum ›Rüstzeug‹ des Kryptozoologen seine Foto- und Videoausrüstung, deren Wert im mittleren fünfstelligen Dollarbereich lag.
Wacker fraß der Isuzu Trooper Meile um Meile. Das betagte Modell hatte er nicht gemietet, sondern in Portland gleich gekauft. Er fühlte sich dann irgendwie unabhängiger.
Bellefleur war die letzte Stadt von nennenswerter Größe gewesen, die er passiert hatte - vor gut vier Stunden und rund 120 Meilen. Seither hatte er noch ein paar ausgestorben aussehende Ansiedlungen hinter sich gelassen, die auf Straßenkarten in gängigem Maßstab nicht einmal verzeichnet waren. Und selbst in seinem Detailkartenmaterial waren sie nur Fliegenschisse.
Die Fahrwege - von Straßen zu reden wäre blanker Hohn gewesen - trugen hier nur noch Kennnummern, die allenfalls für die Ranger in den Districts des Malheur National Forests Sinn ergaben. Wenn Farnsworth es auch unwahrscheinlich schien, dass die Rangers so tief ins dunkle Herz der 1,46 Millionen Morgen bedeckenden Wälder im Osten des US-Bundesstaats Oregons vordrangen, zumindest nicht mit Fahrzeugen. Dieses Kern-Areal wurde in der Regel aus der Luft inspiziert. Dadurch war Farnsworth auch an das Foto gelangt, das ihn hierher geführt hatte.
Er hatte überall in der Welt seine ›Spione‹ sitzen - in verschiedenen Behörden, Forst- und Wetterämtern, aber auch beim Militär, und das nicht nur in den USA, sondern weltweit. Das klang illegaler, als es war. Alles, was diese Leute für ihn taten, war, die Augen offen zu halten. Und wenn ihnen Fotomaterial in die Hände fiel, auf dem sie etwas zu sehen meinten, das für den Kryptozoologen von Interesse sein könnte, ließen sie es ihm zukommen. Wofür Farnsworth sich mit einem kleinen Obolus revanchierte.
Das Luftbild, wegen dem er nach Oregon gekommen war, war aus einer Höhe von 500 Fuß von einem Helikopter aus aufgenommen worden. Die Hubschrauber-Besatzung hatte über dem Malheur National Forest routinemäßig nach Anzeichen von Borkenkäferbefall Ausschau
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