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Erinnerungen an eine Ehe: Roman (German Edition)

Erinnerungen an eine Ehe: Roman (German Edition)

Titel: Erinnerungen an eine Ehe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Begley
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sagte der Portier. Sie werden erwartet. Die Tür ist offen.
    Die Wohnung war so, wie ich sie von meinem ersten Besuch, kurz nachdem Thomas und Lucy in die Stadt gezogen waren, in Erinnerung hatte: eine Fülle schöner amerikanischer Möbelstücke aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert, deutlich weniger gute Porträts von ernst blickenden Männern, Frauen und Familiengruppen, bei denen es sich um Vorfahren handeln musste, warum sonst hätte man sie zu Hause an den Wänden haben wollen, und wunderbare Orientteppiche. Ich hatte damals angenommen, dass die gesamte Einrichtung von Lucys Familie stammte, und sah keinen Grund, meine Meinung zu ändern. Obwohl Lucys Eltern zur Zeit meines ersten Besuchs noch am Leben waren und das große Haus in Bristol samt Inhalt vermutlich ihrem älteren Bruder John zugedacht war, hatten ihr wahrscheinlich die Großeltern De Bourgh und Goddard alles Mögliche vermacht. Schließlich war sie die einzige Enkeltochter. Ich konnte mir auch eine Scheune oder, angesichts der Qualität dieser Sachen, eher einen Speicher vorstellen, in dem diese beiden Familien ehemaliger Sklavenhändler und späterer Industrieller überzählige Möbel, Gemälde, Tafelsilber und Tischwäsche lagerten, auf die jüngere Söhne und Töchter bei Bedarf zurückgreifen konnten. Lucy hatte mich bei diesem ersten Besuch kurz herumgeführt und mir gezeigt, wie sehr sie und Thomas die Wohnung verbessert hatten, die der bisherige, bettlägerige Eigentümer jahrzehntelang hatte verkommen lassen. Als wir wieder in die Bibliothek kamen, war Thomas da, gerade aus seinem Büro gekommen, und bot uns etwas zum Trinken an – einen Whiskey für sie und Martinis in einem Shaker aus Kristall für ihn und mich. Ich gratulierte ihnen zu der eleganten, ja luxuriösen Wohnung. Lucy schüttelte rebellisch den Kopf, eine Geste, an die ich mich erinnerte: Sie war typisch, wenn sie vehement widersprechen wollte.
    Die Gegend ist überhaupt nicht gut, sagte sie. VieleLeute, die man kennt, finden es grundsätzlich inakzeptabel, auch nur ein paar Querstraßen nördlich der Seventy-Second Street zu wohnen.
    Ich zog die Brauen hoch.
    Du brauchst gar keine Grimasse zu schneiden, erklärte sie. Auf der falschen Seite des Parks sind wir außerdem. Die guten Häuser stehen alle auf der anderen Seite und haben Morgensonne. Wir mussten uns mit dem Zweitbesten zufrieden geben, nicht weil ich das wollte, sondern weil mein Treuhandverwalter mir keinen Pfennig mehr gab. Nur falls du noch Zweifel hast, das Geld kommt von mir. Aus meinem Fonds! Wenn wir von dem leben müssten, was Thomas bei Kidder verdient, würden wir in Harlem oder Hoboken wohnen, und dort würdest du uns wohl kaum besuchen!
    Ich fand es merkwürdig, dass Thomas den erhofften Job bei Morgan Stanley offenbar nicht bekommen hatte. Einen Moment danach erklärte er die Sache. Kidder war immer seine zweite Wahl gewesen, aber an die erste Stelle gerückt, als Al Gordon, der Chef des Unternehmens und ein eindrucksvoller Mann, persönlich nach Cambridge kam, um ihn anzuwerben, und klarmachte, dass er und Thomas eng zusammenarbeiten würden.
    Lucys Vorstellung von dem Leben, das sie führen müssten, wenn sie auf Thomas’ Gehalt angewiesen wären, kam mir absonderlich düster vor. Ich vermutete, dass alle guten Investmentbanken ihrem Nachwuchs ungefähr das Gleiche zahlten, und doch schien mein Vetter Josiah Weld, der bei Morgan Stanley arbeitete und genauso alt war wie Thomas, nicht im Elend zu leben. Josaiahs Mutter hatte mir vor kurzem sogar erzählt, wie viel er verdiente. Das Gehalt war bescheiden, aber keinKuli-Lohn, und als ich eine Woche zuvor Josiah und seiner Frau Molly auf einen Drink in ihrem Apartment am Central Park West und der Ninety-Third Street besuchte, hatte ich nicht den Eindruck, in einen Slum geraten zu sein – obwohl es nicht die Park Avenue war, und nicht südlich der Seventy-Second Street! Zufällig hatten wir uns bei den Welds auch darüber unterhalten, wie junge Leute in New York ihr Auskommen fanden – Freunde von Josiah, die gleichzeitig mit ihm Examen gemacht hatten, jetzt wie er Investmentbanker oder Rechtsanwälte waren und ebenfalls wenig eigenes Geld besaßen oder nur minimale Hilfe von ihren Familien bekamen. Wie Molly sagte, wohnten diejenigen, die schon Kinder hatten, am oberen Ende der West End Avenue in mehr oder weniger heruntergekommenen Miethäusern der Mittelklasse oder sogar in der West 106th Street. Untere Mittelklasse, korrigierte Josiah. Diese

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