Erinnerungen der Kaiserin Katharina II.
Gedanken nicht gehen lassen dürfe, vielmehr müsse er alles, was in seinen Kräften stehe, tun, um die Liebe eines jeden Russen zu gewinnen und die Kaiserin bitten, ihn in den Stand zu setzen, sich über die Reichsangelegenheiten zu unterrichten. Ich drängte ihn sogar, um einen Sitz im Rate der Kaiserin nachzusuchen. Und wirklich sprach er mit den Schuwaloffs darüber, die es denn auch bei derKaiserin durchsetzten, ihn jedesmal zu jenen Konferenzen zuzulassen, wenn sie selbst zugegen war. Dies war aber gerade so, als hätte man ihm den Zutritt verweigert, denn die Kaiserin selbst ging höchstens zwei oder dreimal mit ihm hin, worauf sowohl sie als er ihre Besuche ganz einstellten.
Die Ratschläge, welche ich dem Großfürsten gab, waren im allgemeinen gut und heilsam. Allein wer Ratschläge erteilt, kann dies nur gemäß seinem Geist, seiner Art, zu denken und die Dinge anzuschauen und zu behandeln tun. Der größte Fehler der Ratschläge, die ich dem Großfürsten gab, war nun eben der, daß seine Denk- und Handlungsweise ganz und gar von der meinigen verschieden war, und je älter wir wurden, um so schärfer trat der Unterschied hervor. Ich war bestrebt, in allen Dingen der Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen, er indes entfernte sich täglich mehr und mehr von derselben, bis er endlich ein leidenschaftlicher Lügner ward. Da die Art, wie er es wurde, sehr sonderbar ist, will ich hier davon sprechen; vielleicht trägt dies ein wenig zu der Erkenntnis der Entwickelung des menschlichen Geistes in dieser Beziehung bei, sowie zur Verhinderung oder Besserung dieses Lasters bei Individuen, die dazu geneigt sind.
Die erste Lüge, welche der Großfürst beging, war, daß er jungen Frauen oder Mädchen, bei denen er sich in Gunst setzen wollte, und auf deren Unwissenheit er rechnete, erzählte, wie ihn sein Vater, als er noch in Holstein war, an die Spitze einer Abteilung seiner Garden gestellt und gegen einen Trupp Zigeuner geschickt habe, die in der Umgebung von Kiel umherschweiften und, wie er behauptete, scheußliche Räubereien begingen. Er erzählte die genauesten Einzelheiten über ihre Verbrechen, sowie von der List, die er angewandt, um die Räuber zu umzingeln, beschrieb die verschiedenen Gefechte, in denen er Wunder von Kunst und Tapferkeit verrichtete, woraufer die Zigeuner gefangen genommen und nach Kiel transportiert habe. Anfangs wandte er immerhin noch eine gewisse Vorsicht bei seinen Prahlereien an, indem er sie nur denen erzählte, die seine Geschichte nicht kannten. Allmählich jedoch faßte er den Mut, seine Erfindung auch bei denen anzubringen, auf deren Diskretion er genügend zählen konnte, um gewiß zu sein, daß sie ihn nicht Lügen strafen würden. Als er aber auch mir diese Erzählung zum besten geben wollte, fragte ich ihn, wie lange Zeit vor dem Tode seines Vaters diese Ereignisse stattgefunden hätten? Ohne zu zaudern, antwortete er: »Etwa drei oder vier Jahre.« – »Nun, dann haben Sie sehr früh angefangen, Heldentaten zu verrichten,« sagte ich, »denn drei oder vier Jahre vor dem Tode Ihres Vaters waren Sie kaum sechs oder sieben Jahre alt. Nach seinem Tode, also mit elf Jahren, sind Sie unter die Vormundschaft meines Onkels, des Kronprinzen von Schweden, gekommen. Was mich aber am meisten Wunder nimmt,« fügte ich hinzu, »ist, daß Ihr Herr Vater, dessen einziger Sohn Sie waren, Sie in so jungem Alter gegen Räuber ausgeschickt hat, zumal da Ihre Gesundheit, wie man mir gesagt, in Ihrer Kindheit sehr zart gewesen ist.« – Darüber wurde der Großfürst schrecklich böse und erwiderte, ich wollte ihn nur vor aller Welt als Lügner hinstellen und in Mißkredit bringen. Aber ich antwortete ihm, daß nicht ich, sondern der Kalender seinen Behauptungen widerspräche; übrigens überließe ich es ihm selbst, zu beurteilen, ob es menschenmöglich wäre, einen kleinen Knaben von sechs Jahren, den einzigen Sohn und Thronerben, die ganze Hoffnung seines Vaters, gegen Räuber und Mörder auszusenden. Dann schwiegen wir beide, aber er grollte mir noch lange Zeit nachher. Als er jedoch meine Einwände vergessen hatte, fuhr er nichtsdestoweniger fort, sogar in meiner Gegenwart dies Märchen vonneuem zu erzählen, das er bis ins Unendliche variierte. Später dachte er sich noch eine weit schimpflichere und für ihn schädlichere Geschichte aus, die ich bei passender Gelegenheit ebenfalls mitteilen werde. Gegenwärtig ist es mir unmöglich, alle die Fabeln zu erwähnen, die er zuweilen
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