Erlösung
Motorgeräusch war jetzt nichts mehr zu hören.
»Ich sehe den Zug!«, rief Isabel, als sich die Bahnlinie und die Autobahn E 20 kreuzten. Dann wählte sie Joshuas Handynummer und hörte gleich darauf seine Stimme.
»Du musst links aus dem Fenster schauen, Joshua, wir sind schon ein Stückchen vor euch«, sagte sie. »Aber die Autobahn macht auf den nächsten Kilometern eine riesige Kurve, dann bist du eine Weile vorn. Wir versuchen dich auf der Belt-Brücke einzuholen, auch wenn das knapp werden könnte. Wir müssen ja auch noch durch die Mautstation.« Sie hörte sich seinen Kommentar an. »Hat er dich angerufen?«, fragte sie noch, bevor sie das Handy zuklappte.
»Was sagt er?«, drängte Rachel.
»Er hat immer noch keinen Kontakt zu dem Entführer. Und es klang so, als ginge es ihm nicht gut. Er kann sich einfach nicht vorstellen, dass wir es rechtzeitig schaffen. Er hat irgendetwas gestammelt von wegen, es sei vielleicht auch egal, ob wir es schaffen. Hauptsache, der Entführer kapiert die Botschaft des Briefs.«
Rachel presste die Lippen zusammen. Egal, von wegen! Sie würden vor Ort sein, wenn das Stroboskoplicht aufblitzte. Sie würden da sein, und dann würde dieser Psychopath, der ihre Kinder mitgenommen hatte, sehen, wozu sie imstande war.
»Du sagst ja gar nichts«, ließ sich Isabel vernehmen. »Dabei hat er doch recht. Wir können es nicht schaffen.« Ihre Augen klebten förmlich am Tacho. Mehr ging einfach nicht. »Schon allein wegen der Belt-Brücke. Dort ist nicht nur viel Verkehr, dort sind auch jede Menge Kameras. Und die Schranken für die Brückenmaut.«
Rachel überlegte einen Moment, während sie sich mit der Lichthupe Platz auf der Überholspur verschaffte.
»Mach dir darüber keine Gedanken, Isabel«, sagte sie dann.
31
Isabel war entsetzt.
Entsetzt über Rachels Rasen und ihre eigene Unfähigkeit, sie davon abzubringen.
Nur noch zwei-, dreihundert Meter bis zu den Schlagbäumen auf der Brücke, aber Rachel bremste nicht ab. Gleich waren nur noch dreißig Stundenkilometer erlaubt, und sie fuhren hundertfünfzig. Vor ihnen donnerte der Zug mit Joshua durch die Gegend, und den wollte Rachel erreichen, koste es, was es wolle.
»Langsamer, Rachel, langsamer!«, schrie Isabel, als die Mautschalter vor ihnen auftauchten. »Jetzt brems doch!«
Aber Rachel umklammerte das Lenkrad, gefangen in ihrer eigenen Welt. Sie musste ihre Kinder retten. Alles andere war bedeutungslos.
Sie sahen die Brückenwächter an den LK W-Durchfahrten mit den Armen fuchteln. Vor ihnen scherten zwei Autos hektisch zur Seite aus.
Dann rasten sie krachend durch die Schranke. Splitter von allem Möglichen stoben zur Seite und prasselten gegen die Windschutzscheibe.
Wäre ihr Ford Mondeo ein paar Jahre jünger oder zumindest besser instand gehalten, dann hätten die explodierenden Airbags sie aufgehalten. »Die sind defekt, soll ich sie auswechseln?«, hatte der Mechaniker gefragt und gleich hinzugefügt, dass das nicht billig sei. Lange hatte Isabel bereut, dankend abgelehnt zu haben. Jetzt nicht mehr. Hätten sich die Airbags bei dem Tempo geöffnet, das sie im Moment vorlegten, dann hätten sie die Aktion an dieser Stelle abbrechen können. Nunerinnerten an diesen unstatthaften Übergriff auf öffentliches Eigentum nur eine Riesenbeule auf der Kühlerhaube und ein hässlicher Riss, der sich langsam über die Windschutzscheibe ausbreitete.
Hinter ihnen herrschte hektische Aktivität. Wenn die Polizei noch immer nicht mitbekommen hatte, dass ein Auto, registriert auf ihren Namen, eine Schranke der Belt-Brücke durchbrochen hatte, dann schlief da jemand tief und fest.
Isabel atmete schwer aus und gab noch einmal Joshuas Nummer ein. »Wir sind jetzt über die Brücke. Wo bist du?«
Er gab ihr die Koordinaten durch und sie verglich sie mit den eigenen. Er konnte nicht sehr weit weg sein.
»Ich hab ein ungutes Gefühl«, sagte er. »Ich meine, was wir tun, ist falsch.«
Sie beruhigte ihn so gut sie konnte, aber das schien nicht zu helfen.
»Ruf an, wenn du das Licht siehst«, verabschiedete sie sich und legte auf.
Kurz vor der Abfahrt 41 sahen sie auf der linken Seite den Zug. Eine Perlenreihe aus Lichtern, die durch die dunkle Nacht glitt. Im dritten Wagen saß ein Mann, dessen Herz enormem Stress ausgesetzt war.
Wann würde dieses Schwein Joshua kontaktieren?
Isabel drückte das Handy an sich, während sie an Halsskov vorbei in Richtung Abfahrt 40 zischten. Kein Aufblinken.
»Die Polizei in
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