Erlösung
entziffern.«
Carl sah sich die Fotokopien an und nahm das mit den besoffenen Schotten zurück. Verglich man den Originalbrief mit der versuchten Rekonstruktion, dann war das ganz schön eindrucksvoll, was man dort lesen konnte. Er blickte auf den Zettel. Schon immer hatte Menschen der Gedanke fasziniert, eine Flaschenpost auf Reisen zu schicken, die am anderen Ende der Welt aus dem Meer gefischt und gelesen würde. In der Hoffnung, dass sich daraus ungeahnte Abenteuer entwickelten.
Aber romantische Träumereien waren zweifellos nicht der Anlass für diese Flaschenpost gewesen. Das hier war bitterer Ernst, das hatte nichts von Sehnsucht und weißem Sand und blauem Meer. Das hier war kein Dummejungenstreich. Dieser Brief war offenkundig das, wofür er sich ausgab.
Ein verzweifelter Hilferuf.
5
In dem Moment, wo er sie verließ, streifte er seine alte Identität ab. Er fuhr die zwanzig Kilometer zu dem kleinen Hof bei Ferslev, der etwa auf halbem Weg zwischen ihrem Haus in Roskilde und dem Haus am Fjord lag. Dann holte er den Lieferwagen aus der Scheune und parkte dafür den Mercedes dort drinnen. Er schloss das Tor ab, nahm schnell ein Bad und tönte sein Haar. Danach zog er sich komplett um und machte sich zehn Minuten vor dem Spiegel zurecht. Er suchte alles aus den Schränken zusammen, was er brauchte, und ging dann mit dem Gepäck zu dem hellblauen Renault Partner, den er auf seinen Touren benutzte. Dem fehlte jegliches besondere Kennzeichen, er war weder zu groß noch zu klein, die Nummernschilder waren nicht zu schmutzig, aber doch ziemlich unleserlich. Ein absolut unauffälliges Fahrzeug, registriert auf den Namen, den er sich zugelegt hatte, als er den kleinen Hof erwarb. Alles beides im Hinblick auf den Job, den er zu erledigen hatte.
Wenn er diesen Punkt erreicht hatte, war er bis ins kleinste Detail vorbereitet. Durch gründliche Recherchen im Internet und in den Melderegistern, die er seit Jahren als Online-Nutzer konsultierte, war er mit allen relevanten Informationen über seine potenziellen Opfer versorgt. Er hatte immer reichlich Bargeld bei sich. Er zahlte an Tankstellen mit mäßig großen Geldscheinen, ebenso die Brückenmaut. Er sah bei Überwachungskameras konsequent weg, und er sorgte dafür, sich stets von allem fernzuhalten, was Aufmerksamkeit erregen konnte.
Diesmal hatte er Mitteljütland zum Jagdrevier erkoren. Die Konzentration religiöser Sekten war dort sehr hoch, und es war schon ein paar Jahre her, seit er zuletzt in der Ecke zugeschlagenhatte. Doch, ja, er verwandte viel Sorgfalt darauf, den Tod zu verbreiten.
Mehrmals war er vorab in die Gegend gefahren, jedes Mal nur für zwei, drei Tage, und hatte seine Beobachtungen gemacht. Beim ersten Mal hatte er bei einer Frau in Haderslev gewohnt und die beiden nächsten Male in einem kleinen Ort, der Lønne hieß. Das Risiko, in der Gegend von Viborg wiedererkannt zu werden, war deshalb verschwindend gering.
Er hatte die Wahl zwischen fünf Familien gehabt. Zwei Familien waren Mitglieder bei den Zeugen Jehovas, eine bei der Neuapostolischen Kirche, eine bei den Mormonen und eine bei der Kirche der Gottesmutter. Im Moment tendierte er zu Letzterer.
Gegen zwanzig Uhr kam er in Viborg an. Vielleicht war das etwas zu früh für sein Vorhaben, besonders in einer Stadt dieser Größe. Aber man wusste ja nie, was passieren würde.
Zunächst musste er ein Lokal finden, in dem er gut nach Frauen Ausschau halten konnte, die sich für die Gastgeberinnenrolle eigneten. Die Kriterien für das Lokal waren immer dieselben: Es durfte nicht zu klein sein, es durfte nicht in einer Gegend liegen, wo sich alle kannten, nicht zu sehr auf Stammgäste ausgerichtet sein und nicht zu schmuddelig für eine alleinstehende Frau einer gewissen Klasse, die idealerweise zwischen fünfunddreißig und fünfundfünfzig Jahre alt sein sollte.
Das erste Lokal, Julles Bar, war zu eng und zu düster und es gab zu viele Spielautomaten und Dartboards an den Wänden. Das nächste war schon besser. Eine kleine Tanzfläche, absolute Durchschnittsklientel, bis auf einen Schwulen, der sich sofort auf den Nachbarstuhl pflanzte, nur Millimeter von ihm entfernt. Wenn er dort eine passende Frau entdeckte, würde sich der Schwule trotz höflicher Zurückweisung garantiert an ihn erinnern, und das war nicht gut.
Erst beim fünften Anlauf fand er, was er suchte. Der Ladenwar ideal für seine Zwecke, das verrieten ihm schon die Schilder über der Theke: »Wer nichts sagt, beißt am
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