Ermittlerpaar Moretti und Roland 02 - Suendenspiel
zusammengestoßen bist. Der frischgebackene Vater in dem anderen Auto war sofort tot, aber du hast auf wundersame Weise überlebt. Wo ist die Gerechtigkeit dabei? Und wer von euch ist am billigsten davongekommen? Du würdest niemals mit dir selbst leben können, wenn du wüsstest, dass du den Tod eines anderen Menschen verschuldet hast. Ironischerweise ist es wohl als eine Form der Barmherzigkeit anzusehen, dass du das nicht weißt und es auch niemals erfahren wirst.
Ich fahre nicht, obwohl die Ampel längst grün ist, ich sitze da und denke an Neujahrsvorsätze. Was ich mir von dem neuen Jahr wünsche, wurde ich am Silvesterabend gefragt? Ich habe keine Zweifel an meiner Antwort, nur daran, wie ich sie laut aussprechen soll. Ich wünsche mir, dass meine Frau bald das Recht bekommt zu sterben.
Dein Unfall, meine Geliebte, ist zum Albtraum meines Lebens geworden, aus dem ich erst an dem Tag aufwachen werde, an dem du stirbst.
Roland las die letzte Zeile und schaute zu Miroslav auf, der darauf wartete, dass alle zu Ende gelesen hatten. Im Kommandoraum fiel kein einziges Wort, bevor Miroslav sagte:
»Ich habe das ganze Tagebuch gelesen. Es war, wie Liv bereits gesagt hat, auf Esads Computer. Ebenso wie ein Video, das wir euch gleich zeigen werden.«
Miroslav machte eine längere Pause, als wollte er allen Zeit geben, über das Gelesene nachzudenken, bevor Liv begann, ihnen zu erklären, warum sie das hatten lesen sollen.
»Damit ihr Esad Nuhanovics Beweggründe besser versteht«, sagte sie und erklärte weiter, dass das Tagebuch einem seiner Patienten gehört hatte.
»Es deutet alles darauf hin, dass seine Geschichte Esad inspiriert hat, den Letzten Ausweg zu gründen. Er war nämlich der Erste, dem der Letzte Ausweg geholfen hat«, sagte Miroslav.
Erneut machte er eine Pause. Es wirkte, als müsste er sich sammeln, als fiele ihm das hier sehr schwer. Dann beendete er seinen Satz.
»Und Esad war der Letzte«, sagte er und öffnete eine neue Datei, woraufhin ein Video abgespielt wurde.
Ein Bild füllte den Bildschirm aus. Ein Mann lag in einem Bett, die verschränkten Hände ruhten oben auf der Decke. Die Augen waren geöffnet und hatten eine violette Farbe. Die Haut war weiß wie der Kissenbezug, auf dem sein Kopf lag, Augenbrauen und Haare waren hell und der Mund rot wie eine Kirsche. Esad Nuhanovic. Unverkennbar. Seine Augenlider bewegten sich, er lebte noch. Dann schwankte die Kamera. Es war eine Handkamera. Jemand hielt sie, holte Esad Nuhanovics Gesicht heran, seine traurigen, violetten Augen. Dann wurde das Gesicht wieder ausgeblendet, und eine Krankenschwester tauchte im Bild auf. Sie fragte ihn, wie es ihm ging.
»Gefasst«, lautete die geflüsterte Antwort.
Die Krankenschwester nahm ihre Brille ab und putzte sie. Sie weinte.
Schließlich tauchte Safet im Bild auf. Er trat ans Bett und setzte sich. Auch er weinte und wischte sich die Tränen weg. Er hielt Esads Hand, während sie leise miteinander sprachen.
»Pass auf dich auf«, flüsterte Esad. »Sei ein guter Junge.«
Safet nickte, während die Tränen flossen.
»Wir sehen uns auf der anderen Seite.«
Safet trocknete sich die Augen mit dem Ärmel ab. Dann warf er sich weinend über Esads Oberkörper. Esad legte einen Arm um ihn und klopfte ihm auf die Schulter.
»Es ist okay. Es ist mein Wille. Denk an den zweiten Korintherbrief. ›Denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.‹«
Safet stand auf, als die Krankenschwester wieder ins Bild kam. Er hielt Esads Hand, während die Krankenschwester sagte, dass sie Esad jetzt die todbringende Injektion in den Oberschenkel setzen würde. Er würde nur den Einstich der Nadel spüren. Safets Gesicht verkrampfte sich. Noch einmal wischte er sich die Tränen mit dem Ärmel seines Hemdes ab.
»Können wir Musik anmachen?«, fragte Esad.
Klassische Geigentöne kamen aus einer Anlage neben dem Bett und erfüllten den Raum. Esad schloss die Augen und nickte.
Roland und Liv hielten beide den Atem an und wichen mit ihren Blicken nicht von der Leinwand, während die Frau in dem weißen Kittel mit einer Kanüle in der Hand an das Bett trat. Safet hielt Esad Nuhanovics Hand, als die Frau die Bettdecke wegzog. Vorsichtig desinfizierte sie die Einstichstelle, bevor sie die Spritze in den Oberschenkel setzte. Die Geige wurde jetzt sowohl von einem Glockenspiel als auch von Pauken begleitet.
»Danke«, kam es leise von Esad Nuhanovic, als die Krankenschwester die Kanüle herausgezogen und die Bettdecke
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