Ermittlerpaar Moretti und Roland 02 - Suendenspiel
wieder über sein Bein gelegt hatte. Seine Lippen vibrierten und aus einem Auge lief eine Träne. Es gab keinen Weg mehr zurück.
In den nachfolgenden Sekunden drückte Safet verbissen die Hände des Sterbenden, bevor Esad Nuhanovic mit einem tiefen Seufzer von dieser Welt Abschied nahm.
Nach ein paar Minuten, in denen die Kamera direkt auf das Gesicht des sterbenden Mannes gerichtet war, wurde das Bild schwarz, und ein Text tauchte auf, während die Musik immer lauter und dramatischer wurde. Ein Text, der erklärte, dass aktive Sterbehilfe »das Menschenrecht des 21. Jahrhunderts« werden müsse.
»Welche Meinung vertreten Sie?«, stand da. »Jemand in Ihrer Familie, jemand, den Sie lieben, leidet und möchte sterben. Was werden Sie tun? Wenn das Leben nichts als ein endloser Schmerz ist, sollten Sie dann nicht selbst das Recht haben, über Ihr Ende zu bestimmen?«
Die sich anschließende Stille im Kommandoraum hatte für alle eine unterschiedliche Bedeutung. Roland dachte an seinen Vater, den er gerade zu Grabe getragen hatte, Liv an ihre Mutter und ihre zahlreichen Selbstmordversuche. Dann wanderten ihre Gedanken zu Miroslav, der soeben seinen Freund hatte sterben sehen, bevor sie an Esad Nuhanovic dachte, dessen Tod beinahe nie die Aufmerksamkeit bekommen hätte, die er hatte bekommen sollen. Ganz wie ein Märtyrer hatte er sein Leben für seine Überzeugung geopfert, dass alle das Recht hatten, sich gegen das Leben zu entscheiden.
Sie schüttelte sich. Welch ein Zynismus im Umgang mit Leben und Tod. Auch wenn sie das 15 Minuten lange Video schon einmal gesehen hatte, brauchte sie ein paar Minuten, bevor sie ihre Fassung zurückgewonnen hatte und die Gedanken wieder frei fließen konnten. Es war also Selbstmord. Genau wie Anette ihr Anfang der Woche erklärt hatte, war die Reaktion auf die Traumata des Krieges erst jetzt, 15 Jahre später, gekommen. Esad Nuhanovic hatte sich entschieden, seinen Schmerz hinter sich zu lassen und damit gleichzeitig für seine Sache zu kämpfen. So bekam sein Leben doch noch einen Sinn. Er rettete einen jungen Vater, indem er ihm seine Niere spendete, und kämpfte für den würdigen Tod sterbenskranker Patienten, die von den Ärzten aufgegeben worden waren. Das war seine Art, mit der Vergangenheit abzuschließen.
Aber womit hatte er abschließen müssen? Was in seiner Vergangenheit quälte ihn so, dass er nicht mehr leben wollte? Was war sein »Dorn im Fleisch«?
Diese Antwort mussten ihnen Doktor Andersen und Safet geben.
37
S chloss Sønderborg bewachte seit der Zeit Waldemars des Großen die Einfahrt in den Als-Sund im Süden. Die Anlage aus dem Jahr 1169 war Jütlands älteste erhaltene Trutzburg. Durch die dicken Mauern, die Schießscharten und die Lage am Strand, abgewandt vom Festland, war sie lange Zeit uneinnehmbar gewesen.
Liv hatte das Gefühl, einem Stück Geschichte gegenüberzustehen. Aus der Schulzeit erinnerte sie sich, dass Christian II. als Gefangener seines Onkels in dieser großen Burg gesessen hatte. Wann das war, wusste sie nicht mehr, vermutlich aber irgendwann im 16. Jahrhundert. Dafür erinnerte sie sich deutlich an die alte Geschichte von dem Tisch im »Kerker« des Königs. Er hatte rundherum eine Vertiefung, geformt von den Fingern des Königs, der ruhelos um den Tisch herumgewandert war.
Heute erzählten die Ausstellungen auf dem Sønderborger Schloss die Geschichte des Landesteils, von Krieg und Frieden, Zensur, Grenzen und Wiedervereinigung, wechselnden Zugehörigkeiten und kulturellen Einflüssen, wie auf dem Schild vor ihr zu lesen war.
Sie spürte das Handy in ihrer Tasche vibrieren.
»Liv.«
»Susanne aus dem Labor. Sie hatten uns eine Probe geschickt?«
»Ja.«
»Wir haben jetzt ein Ergebnis.«
»Und?«
»Eine klare Übereinstimmung. Ich schicke Ihnen die Unterlagen.«
»Danke.«
Sie steckte das Handy zurück in die Tasche.
»Holen wir ihn«, sagte sie zu Miroslav.
Sie nickten sich zu und gingen in schnellem Tempo über die Pflastersteine an den dicken Backsteinmauern des Schlosses entlang zum Souvenirladen. Der Verkäufer schüttelte den Kopf, als sie nach Safet fragten.
»Er ist heute nicht gekommen.«
»Sind Sie sicher? Wir haben vor einer Viertelstunde mit Camilla Andersen telefoniert, bei der er wohnt. Sie sagte, er sei auf der Arbeit.«
Der Verkäufer zuckte mit den Schultern und sah sie gleichgültig an. Liv fing Miroslavs Blick ein, und eine eisige Angst breitete sich in ihr aus. Ohne ein Wort zu sagen, rannte sie
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