Die Abenteuer des Sherlock Holmes Bd.1
Vorwort
Sir Arthur Conan Doyle schrieb im Jahre 1918 an Vincent Starrett, einen der ersten aus der langen, bis heute noch nicht an ein Ende gelangten Reihe von ›Holmesologen‹, die es sich angelegen sein ließen und lassen, die ›Biographie‹ der Kunstfigur Sherlock Holmes zu erforschen: ›Es war sehr freundlich von Ihnen, daß Sie so eifrig über Holmes geschrieben haben. Meine eigenen Gefühle ihm gegenüber sind eher gemischt, denn ich empfinde, daß er einen guten Teil meines ernsthafteren Werkes verdunkelt hat. Aber das wird zweifellos im Lauf der Zeit ins Lot kommen – wenn nicht, macht es auch nichts.‹
Das, was da an Hoffnung anklingt, hat sich nicht erfüllt, das Schlimmste vielmehr ist eingetroffen: Sherlock Holmes hat seitdem das ›ernsthaftere Werk‹ Arthur Conan Doyles fast völlig ›verdunkelt‹ – wenn man schon nicht davon sprechen will, daß es im Lauf der Jahre von selbst verblaßt ist. Holmes aber lebt noch immer, als Paradebeispiel dafür, daß eine fiktive Gestalt weltweit Eigenexistenz und Eigengewicht gewinnen und ihren Schöpfer wie die sozialen Bezüge, in denen sie angesiedelt ist, fast völlig verdrängen kann. Bei bloßer Nennung des Namens stellen sich in einem solchen Fall über Zeit und Umstände hinausreichende Assoziationen ein, die sich so wohl auf das Äußere wie auf die seelische und geistige Organisation des gleichsam geflügelt gewordenen Heroen sowie auf die Sache, für die er steht, erstrecken. Die Literaturen der Welt kennen nicht viele Beispiele für einen derartigen Vorgang: Odysseus vielleicht, Parzival, Don Quijote, Don Juan, Romeo, Robinson, Faust, Oblomow… Und dieser Reihe illusterer Namen schließt sich der Detektiv Sherlock Holmes aus der Baker Street 221B an – übrigens ein Beleg dafür, daß es einer Absegnung durch Literarhistoriker-Meinung (die sich fast unisono gegen einen besonders hoch zu veranschlagenden literarischen Wert der HolmesStories ausgesprochen hat) nicht unbedingt bedarf, um in den olympischen Kreis der erdichteten Helden aufgenommen zu werden. Dem Publikum steht hier das Votum zu, und das Publikum hat entschieden, daß dem Detektiv Holmes – Mittelpunktsfigur in vier längeren, romanartigen Erzählungen und in sechsundfünfzig ursprünglich für ein Magazin geschriebenen Kurzgeschichten, die später, zu fünf Zyklen zusammengefaßt, auch in Buchform erschienen – der Rang eines Unsterblichen zuteil werde. Man muß nicht auf die oft eher kuriosen Anstrengungen der zahlreichen SherlockHolmes-Clubs oder die seriöseren, ganze Bibliotheken füllenden Bemühungen von Wissenschaftlern verweisen, unter denen sich erstaunlich viele Soziologen und Kriminologen finden, um dieses Phänomen des Über- und Weiterlebens zu erklären. Die Umsatzzahlen von Verlagen auf der ganzen Welt seit neunzig Jahren, die Übertragung der Geschichten in Dutzende Sprachen, die zahlreichen Theaterfassungen und Verfilmungen der Holmes-Abenteuer, die Versuche von Trivialschriftstellern, im Windschatten des Erfolgs mit Holmes-Imitationen ihr Glück zu machen, und nicht zuletzt die Vorbildwirkung der Figur des genialen Rechercheurs auf eine schwer übersehbare Schar von Autoren, die Detektive nach seinem Bild und Gleichnis schufen und noch schaffen: all das ist Indiz für die anscheinend nie versiegende Popularität einer Gestalt, deren Schöpfer – so berichtet Conan Doyle selbst – seinen Beruf aufgab, weil er in ihm nicht genug verdiente, um sich und seine Familie zu ernähren.
Holmes und auch John H. Watson – Freund und Begleiter, Registrator und Barde der Abenteuer des Einmaligen, dazu ehrenwerter Doktor der Medizin wie Doyle selbst – sind indes in ihrer Wirkung nicht auf das Feld der Literatur beschränkt geblieben; sie haben nach der Eigengesetzlichkeit dieser Art von Geschöpfen Leben angenommen, was nicht nur die heute noch unter der – nicht existierenden – Adresse Baker Street 221B oder bei Scotland Yard eingehenden Bitten um Hilfe in kniffligen Fällen beweisen. Eine Londoner Ausstellung zeigte im Jahre 1951 neben Feuerwaffen, Violinen, Lupen, Meerschaumpfeifen, Schreibmaschinen, Morseapparaten aus der Wirkenszeit des imaginierten Detektivs das nach den Beschreibungen Watsons ›rekonstruierte‹ Arbeitszimmer des Hauses in der Baker Street, und innerhalb von drei Monaten zählte man 65 000 Besucher, die sich die Begegnung mit dem ›authentischen‹ Sherlock Holmes nicht entgehen lassen wollten; am 8. Januar, dem errechneten
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