Erntedank
Prolog
Als er an diesem kühlen Herbstmorgen die Haustüre öffnete und nach draußen trat, blieb er für einen Augenblick auf der Schwelle stehen. Wie ein ausgewaschenes Leintuch spannte sich der Nebel über die Felder, eine Decke, die die Erde noch nicht dem Tag preisgeben wollte. Er legte den Kopf in den Nacken und blickte in den dämmrigen, von grauen Wolkenfetzen übersäten Himmel. Durch die Nase sog er die frische Morgenluft in seine Lungen, streckte sich und entblößte seine verfaulten Zähne. Dann knöpfte er den obersten Knopf seiner groben Filzjacke zu, zog sich seinen speckigen, zerschlissenen Hut tief ins Gesicht, griff sich die Axt, die in einem Baumstumpf gleich neben der Eingangstüre steckte, und stapfte los.
Es war kalt, aber er ging schnell, und schon bald hatten sich kleine Schweißtropfen auf der Stirn des stämmigen, breitschultrigen Mannes gebildet. Er hatte seinen Blick starr auf den Boden gerichtet, beobachtete, wie sich die Nebelschwaden teilten, wenn er sie mit seinen Stiefeln durchschritt, wie sie kleine Wirbel bildeten, die um seine Knöchel tanzten. Er mochte den Nebel.
Er hatte sich noch keine zweihundert Schritte vom Haus entfernt, da blieb er stehen. Er dachte, er hätte ein Geräusch gehört, aber jetzt, als er stand, war es absolut still um ihn herum. Die wenigen Geräusche, mit denen die Natur zu solch früher Stunde ihr Erwachen ankündigte, wurden vom Nebel beinahe gänzlich verschluckt. Er sah an seinem Haus vorbei auf den Hang. Dort war kein Nebel mehr. Als sein Blick auf den großen, gelblich-weißen Tuffstein fiel, verzogen sich seine Lippen zu einem spöttischen Grinsen. »Nicht mit mir«, flüsterte er leise. Da könnten sie ihm noch so oft mit dem Tod drohen. Er hatte keine Angst. Dann setzte er sich wieder in Bewegung.
Nur das Schmatzen seiner Schuhe, die bei jedem Schritt ein wenig in den schlammigen, vom Dunst aufgeweichten Boden einsanken, begleitete ihn. Als er den Waldrand erreicht hatte, blickte er sich noch einmal um. Irgendetwas war heute anders. Er konnte es nicht erklären, denn alles schien wie immer. Wie gestern und vorgestern. Und den Tag davor. Alle Tage davor. Doch so plötzlich, wie das Gefühl gekommen war, verschwand es auch wieder. Er machte einen Schritt nach vorn und die Dunkelheit des Waldes verschluckte ihn
Er hatte wie immer Mühe, sich den Weg durch das dämmrige Dickicht zu bahnen. Seine Augen waren nicht mehr die besten. Als ob es etwas nützen würde, rieb er mit seinen schmutzigen, rissigen Fingern über seine Lider. Dann sah er vor sich die Lichtung. Er beschleunigte seinen Schritt etwas. Schnell fand er den Baum, den er tags zuvor mit einem Kreuz markiert hatte. Er blieb stehen, zog die Jacke aus und breitete sie neben sich auf dem Boden aus. Dann löste er den Knoten seines Halstuchs und legte es auf die Jakke.
So machte er es immer.
Anschließend schnappte er sich die Axt mit beiden Händen, holte weit aus und schlug zu. Er war ein kräftiger Mann und schon beim ersten Hieb drang die Schneide tief ins Holz der Tanne. Die Rinde splitterte mit solcher Wucht, dass er kurzzeitig die Augen schließen musste. Er holte erneut aus. Die Axt pfiff durch die Luft, und noch bevor sie den Stamm traf, hörte er hinter sich ein Knacken. Als habe jemand im Gehen einen Zweig zertreten. Dann wurden die Geräusche vom Krachen der Axt übertönt, die nun, etwas schräger angesetzt, einen dicken Keil aus dem Baumstamm heraushieb.
Er ließ die Axt stecken und drehte sich um. Normalerweise hätte er dem Ganzen keine Aufmerksamkeit geschenkt, denn der Wald kannte viele Geräusche und nur Menschen, die nicht dauernd hier zu tun hatten, fanden sie unheimlich. Aber heute war es anders. Wieder meldete sich dieses merkwürdige Gefühl. Als er sich umdrehte, meinte er, einen Schatten hinter dem Stamm einer Fichte zu erkennen. Doch er hatte keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, denn ihr Stamm kam mit rasender Geschwindigkeit auf ihn zu. Er machte nicht einmal mehr einen Schritt zur Seite. Sein Mund öffnete sich, aber er kam nicht mehr dazu, zu schreien. Das letzte, was er in seinem Leben sah, war das Splittern der Rinde, als der Baum seinen Schädel spaltete.
Man schrieb das Jahr des Herrn 1657.
Es ist ein Schnitter, der heißt Tod,
Er mäht das Korn, wenn’s Gott gebot;
Schon wetzt er die Sense,
Daß schneidend sie glänze,
Bald wird er dich schneiden,
Du mußt es nur leiden;
Mußt in den Erntekranz hinein,
Hüte dich schöns Blümelein!
»Mei,
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