Eros und Evolution
daß diese eine andere – aber immer noch eine menschliche – Natur besäßen. 5 Bei ihnen gäbe es vielleicht keine dauerhaften Paarbeziehungen von der Form, die wir als Ehe bezeichnen, keine Vorstellung von romantischer Liebe und keine Beteiligung der Väter an elterlichen Pflichten. Wir könnten mit ihnen einige hochinteressante Diskussionen zu diesen Themen führen. Doch solche Menschen gibt es nicht. Wir sind alle eine eng zusammenhängende Familie, entstammen alle einem kleinen Zweig des modernen Homo-sapiens- Volkes , das bis vor einhunderttausend Jahren in Afrika lebte.
So wie die menschliche Natur an jedem Ort dieselbe ist, so war und ist sie auch deutlich erkennbar zu jeder Zeit dieselbe. Ein Schauspiel von Shakespeare handelt von Motiven, unangenehmen Situationen, Gefühlen und Persönlichkeiten, die uns sofort vertraut erscheinen.
Falstaffs Pathos, Jagos List, Leontes Eifersucht, Rosalindes Unbeirrbarkeit und Malvolios Verlegenheit sind über vierhundert Jahre unverändert geblieben. Shakespeare schrieb über dieselbe menschliche Natur, mit der wir es heute zu tun haben. Lediglich seine Sprache ist gealtert (und sie ist erworben, nicht angeboren). Wenn ich Antonius und Kleopatra sehe, dann erlebe ich eine vierhundert Jahre alte Interpretation einer zweitausend Jahre alten Geschichte. Dennoch käme ich niemals auf die Idee, Liebe könnte damals etwas anderes gewesen sein als heute.
Man muß mir nicht erklären, weshalb Antonius in den Bann einer wunderschönen Frau gerät. Über Zeit und Raum hinweg sind die Grundlagen unserer Natur universell und ganz spezifisch menschlich.
Der einzelne in der Gesellschaft
Nachdem ich nun die ganze Zeit betont habe, daß alle Menschen gleich sind und daß dieses Buch sich mit ihrer gemeinsamen menschlichen Natur auseinandersetzen soll, wird es nun den Anschein haben, als behaupte ich im folgenden das Gegenteil – und doch ist es kein Widerspruch.
Menschen sind Individuen. Jedes Individuum unterscheidet sich ein wenig vom anderen. Gesellschaften, in denen die Mitglieder wie identische Marionetten behandelt werden, geraten rasch in Schwierigkeiten. Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen, die der Ansicht sind, Individuen handelten aus sich heraus im Kollektiv und gehorchten nicht ihren eigenen Interessen (»Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen« 6 im Gegensatz zu: »Den letzten beißen die Hunde«), werden nur allzubald eines Besseren belehrt. Eine Gesellschaft besteht so sicher aus konkurrierenden Individuen, wie ein Markt aus konkurrierenden Händlern besteht; im Brennpunkt ökonomischer und soziologischer Theorien muß das Individuum stehen. Ähnlich der Tatsache, daß es die Gene sind, die sich selbst kopieren, und nicht der Körper, so sind es auch die einzelnen und nicht die Gesellschaften, welche als Transportmittel für Gene fungieren. Und die fürchterlichsten Bedrohungen, denen ein menschliches Wesen auf dem Weg zu seinem naturgegebenen Ziel, Nachkommen in die Welt zu setzen, ausgesetzt ist, stammen von anderen menschlichen Individuen.
Es ist bemerkenswert an der menschlichen Spezies, daß zwei Menschen niemals identisch sind. Kein Sohn ist seinem Vater exakt nachgebildet, keine Tochter gleicht genau ihrer Mutter, kein Mann ist seines Bruders Ebenbild und keine Frau eine Kopie ihrer Schwester – mit der seltenen Ausnahme eineiiger Zwillingspaare. Jeder Idiot kann Vater oder Mutter eines Genies sein – und umgekehrt. Jedes Gesicht und jeder Satz von Fingerabdrücken ist absolut einzigartig. Diese Unverwechselbarkeit geht beim Menschen tatsächlich weiter als bei jedem anderen Tier. Jedes Individuum ist in irgendeiner Weise ein Spezialist, ob es sich nun um einen Schweißer, eine Hausfrau, einen Stückeschreiber oder eine Prostituierte handelt. Seinem Verhalten ebenso wie seiner äußeren Erscheinung nach ist jeder Mensch einzigartig.
Wie paßt das zusammen? Wie kann es eine universelle artspezifische menschliche Natur geben, wenn jeder Mensch einzigartig ist? Die Lösung für dieses Paradoxon findet sich in einem Vorgang namens Sexualität. Denn die Fortpflanzung ist es, welche die Gene zweier Menschen miteinander vermischt, die Hälfte dieser Mischung ausrangiert und damit sicherstellt, daß kein Kind seinen Eltern genau gleicht. Sie führt aber durch diese Vermischung gleichzeitig dazu, daß schließlich alle Gene zum Genpool der gesamten Spezies beitragen. Die Fortpflanzung ist also einerseits für die Unterschiede
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