Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Nacht
Im eisigen Hotelzimmer. Unter zwei Decken. In wollenen Trainingshosen. Vor den Fenstern eine Regennacht.
Wozu? Wozu das Ganze? Ich will essen, spüre ich plötzlich, heiß duschen.
Was suche ich? Die Insel? Aber sie wurde längst vor mir entdeckt. Die Insel ist mein absurder Einfall, man braucht keine große Phantasie, um sich auszumalen, was einen dort erwartet. Flache Weite. Tundra. Ein grauer niedriger Himmel mit dunklen Wolken, wie aufgepflügtes Ackerland. Eine trübe blecherne Sonne, die kein einziges Mal hinter den Wolken hervorkommen wird. Im Wind zitternde kümmerliche Grashalme und – Triumph sommerlicher Prachtentfaltung – Echte Kamille … Feuchtigkeitsgeruch, allenthalben Moore, und eine Küste, wo es nach nichts als Lehm riecht, weil das Wasser, gelb und eisig, aus irgendeinem Grund keinen Geruch hat.
Ansonsten dürfte alles wie hier in Narjan-Mar sein, nur noch schlimmer. Dieselbe Kälte, dasselbe Elend.
Den zweiten Tag schon gibt es im Hotel weder Heizung noch Wasser. Ich hole das Wasser draußen am Hydranten mit dem Kochkessel. Morgens reicht es, um sich zu waschen, die Toilettenschüssel nachzuspülen und Tee zu kochen, abends: um sich zu waschen, sich feucht mit dem Handtuch abzureiben, die Toilettenschüssel nachzuspülen, Tee zu kochen. Im ersten Stock gibt es eine Tür mit der Aufschrift »Buffet«. Geöffnet habe ich sie bisher noch nicht erlebt. Obwohl es ein neues und das teuerste Hotel der Stadt ist. Das beste …
Ich murre schon wieder. Nachts ziehen einem kleinmütige Gedanken durch den Kopf, fischschwarmgleich. Manchmal ist der Schwarm größer, manchmal kleiner. Manchmal lässt sich gar nichts denken, so sehr wimmelt und flimmert alles von tausenderlei Befürchtungen, als schnellten kleine Heringe umher.
Alles nur, weil ich gezwungen bin, in einer fremden Stadt auf den Hubschrauber zu warten. Außerdem können Moskauer nicht warten. Am wenigsten Journalisten.
Ich weiß: Die richtigen Gedanken kommen einem erst
im Nachhinein
. Wenn alles abgeschlossen ist. Und es ist völlig sinnlos, diesen Fischschwärmen hinterherzudenken. Aber ich habe eine Kieferhöhlenentzündung. Und ich leide unter der Kälte. Dazu noch dieser Regen tagaus, tagein.
Außerdem, was hat Korepanow gleich noch über diese angeblich auf der Insel existierenden parallelen Zeiten gesagt – die nüchterne und die betrunkene? Dass man in letztere besser nicht geraten solle … Und dass, je interessanter und einnehmender ein Mensch in nüchternem Zustand sei, desto entsetzlicher in betrunkenem … Entgegen dem ersten Anschein sind diese Dingen von fundmentaler Bedeutung. Korepanow weiß, wovon er spricht: er hat auf der Insel drei Jahre als Vorsitzender verbracht. Irgendwie ist mir seine Schilderung unvergesslich, wie die Insel im Frühling zu neuem Leben erwacht: Die Märzsonne übergießt die Eismassen mit einem reinen, rosigen Licht, und in der ohrenbetäubenden Stille schlägt plötzlich in einer dunklen Wasserrinne der Weißwal mit seiner Schwanzflosse.
Auch von irgendwelchen unterirdischen Menschen hat er erzählt.
Und vom Messer.
Das Messer … Darauf war ich am wenigsten gefasst. Offen gestanden macht mir das Angst. Die romantische Idee meiner Reise hat sich als trügerisch erwiesen: Es gibt nichts, was weniger romantisch wäre als der Hohe Norden heute. Ich befürchte inzwischen, dass ich das, was ich zu finden hoffte, nicht finden werde. Omnia praeclara rara. 2 Ich war vorgewarnt durch die antiken Autoren. Und in zweitausend Jahren abendländischer Geschichte hat sich wenig geändert – höchstens drücken wir heute die alten Wahrheiten in neuen Sprachen aus: »Beauty is a rare thing.« 3 Sogar in der Musik, verdammt! Nach dem, was ich über den Hohen Norden gelesen habe, schien es möglich, hier Spuren einer gewissen
uranfänglichen
Schönheit zu entdecken. Aber aus dem, was ich inzwischen erfahren habe, ist klar, dass ich am ehesten auf etwas sehr Bedrückendes stoßen werde, wenn nicht gar Bedrohliches wie dieses Messer in der Hand eines Betrunkenen.
Schon wieder. Wieder der Fischschwarm. Weg damit! Hau mit dem Ruder aufs Wasser, auf deinem Floß im Hotelzimmerbett! Weg mit dir, du Kroppzeug, weg jetzt!
Ich springe vom Floß herunter und gehe, die nackten Füße vorsichtig auf dem eisigen Grund aufsetzend, zum Fenster. Im dichten nächtlichen Regenschleier zeichnen sich die grauen Baracken von Narjan-Mar ab. Eine fremde Stadt, in der ich, weiß der Henker warum, gestrandet bin … Nein.
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